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18. Oktober 2012

Wie Gilad Schalit es schaffte, nicht durchzudrehen

Gilad Schalit war fünf Jahre in Gefangenschaft der Hamas – insgesamt 1942 Tage mussten er und seine Familie durchstehen. Nun spricht der israelische Ex-Soldat erstmals ausführlich über die Zeit. Von Michael Borgstede, erschienen auf Die Welt Online, 18.10.2012.

„Erkennt ihr das wieder?“, fragt der junge Mann und zieht ein gestreiftes Hemd aus einer Plastiktüte. „Das Hemd, in dem ich zurückgekommen bin. Das berühmte Hemd“, sagt er dann und lächelt etwas verlegen.

So beginnt ein 45-minütiger Dokumentarfilm, in dem der vor einem Jahr aus der Gefangenschaft der radikal-islamischen Hamas freigekommene israelische Soldat Gilad Schalit  sich erstmals ausführlich zu seiner Gefangenschaft äußert. Schon während der Gefangenschaft im Gazastreifen hatten die Filmemacher des privaten Senders Channel 10 mit dem Einverständnis der Familie für den Film zu drehen begonnen.

Immer wieder werden Szenen der verzweifelten Eltern zwischengeschnitten, die – von Sorge um ihren Sohn zerfressen – gegen die Hoffnungslosigkeit ankämpfen. „Es ist unmöglich, diesen Schmerz zu beschreiben – unmöglich“, sagt die Mutter Aviv da, als Gilads Schicksal noch ungewiss ist. Es lasse einen nie los: Bei jedem Schluck Wasser frage man sich, ob Gilad heute wohl getrunken, bei jedem Bissen, ob er gegessen habe.

Wenn es draußen kalt sei, sorge man sich darum, ob er eine Decke habe. 1942 schreckliche Tage musste die Familie durchstehen, ehe der Sohn im Rahmen eines Gefangenenaustausches zu ihnen zurückkehrte.

Der Hamas eine solche Perfektion nicht zugetraut

Am 25. Juni 2006 wurde er bei einem gut organisierten Angriff von Hamas-Kämpfern aus seinem Panzer gezerrt und entführt, zwei seiner Kameraden kamen ums Leben. Heute sagt er, sie seien von der Aktion überrascht worden, hätten der Hamas eine solche Perfektion nicht zugetraut.

Habe er damals geglaubt, dass die Gefangenschaft eine so lange Zeit währen könne? „Ich erinnere mich, dass ich zu Anfang gedacht habe, das könnte einige Jahre dauern,“ antwortet Schalit. Und natürlich habe er sich Sorgen gemacht, dass es ihm ergehen könnte, wie dem 1986 über dem Libanon abgestürzten Navigator Ron Arad, dessen Schicksal bis heute ungeklärt ist. Ob es ihm schwerfallen werde, seine zukünftigen Kinder zur Armee zu schicken? Ja, antwortet er.

„Am Ende aber hat mich der Staat dort herausgeholt. Ich habe keinen Zweifel, dass ich meine Kinder zur Armee schicken werde“, sagt er bestimmt. Obwohl er hoffe, dass das bis dahin nicht mehr nötig sein werde.

Um nicht den Verstand zu verlieren, habe er sich bemüht, in der Gefangenschaft immer aktiv zu bleiben, erinnert sich der oft etwas verlegen wirkende junge Mann. Ein geordneter Tagesablauf sei wichtig: „Immer mehr oder weniger zur selben Zeit aufstehen und zur selben Zeit schlafen gehen, dieselben Sachen machen“, das könne sehr helfen.

Wärter schenkten ihm eine alte Digitaluhr

Auch sein Zeitgefühlt habe er sich bewahrt und meist gewusst, welcher Tag und welches Jahr es war. Obwohl er kaum Tageslicht zu Gesicht bekam, konnte er sogar die Tageszeit bestimmen.

Im letzten Jahr seiner Gefangenschaft hätten seine Wärter ihm eine alte Digitaluhr geschenkt, erzählt er und kramt sie aus seiner Plastiktüte hervor. Man sieht seinen glänzenden Augen an, was das für den von der Außenwelt abgeschnittenen Gefangenen bedeutet haben muss.

Zu seinem eigenen Wohl hat er ein möglichst spannungsfreies Verhältnis zu seinen Wächtern unterhalten – die ja schließlich jahrelang sein einziger zwischenmenschlicher Kontakt waren. Irgendwann habe er ein Radio bekommen und manchmal habe er mit seinen Wärtern Fernsehen geguckt.

Schalit erinnert sich an deren Überraschung, als das israelische Basketballteam Maccabi Tel Aviv ein besonders tolles Spiel hingelegt hatte. Tagsüber hätten sie oft Domino oder Schach gespielt, und allein habe er sich beschäftigt, indem er aus Socken oder einem Hemd Bälle gemacht und auf den Papierkorb gezielt habe.

Allerlei Listen habe er erstellt, Stadt, Land, Fluss mit sich selber gespielt und Landkarten von Israel und seinem Heimatort Mizpe Hila gezeichnet, gegen das Vergessen. In seinem sehr eingeschränkten Erlebnisrahmen habe er sich bemüht, die kleinen, schönen Dinge zu schätzen, irgendetwas Lebenswertes zu genießen, sagt er.

„Nur ich bin zurückgeblieben“

In Israel kennt jedes Kind Gilad Schalit. Auf einer Reise nach New York, bei der ihn das Filmteam begleitet, genießt er die Anonymität. Er fährt mit der Pferdekutsche durch den Central Park und schaut sich ein Basketballspiel an. „Es ist schwer, in das normale Leben zurückzukehren. Menschen sind älter geworden, haben sich verändert. Nur ich bin zurückgeblieben.“ Schalit ist heute 26 Jahre alt, bei seiner Entführung war er 19.

Die Woche vor seiner Freilassung sei ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen, „die letzten Tage habe ich überhaupt nicht geschlafen“, erinnert er sich. Derweil richten die Eltern im Norden Israels ihr Haus wieder her.

Ein Jahr sind sie nicht mehr dort gewesen: Mutter Aviva kocht sein Lieblingsessen, der Vater macht den Garten, Gilads Kleidung soll frisch gewaschen im Kleiderschrank liegen. Das Filmteam ist dabei, und man spürt die Nervosität aller Beteiligten.

„Die Freude, von Mama umarmt zu werden“

Am 18. Oktober 2011 kommt Gilad Schalit frei. Auf den ersten Fernsehbildern sieht man, wie das Hemd aus der Plastiktüte viel zu groß für seinen abgemagerten Körper ist. Es sei seltsam gewesen, plötzlich wieder den Himmel und die Sonne zu sehen, sagt er. Er habe in der Gefangenschaft im großen Nichts immer Kleinigkeiten finden müssen, für die es sich zu leben lohnt.

Er habe immerhin im Fernsehen manchmal Himmel und Sonne gesehen. Und er konnte sich ja auch vorstellen, wie die Menschen draußen, in der Freiheit, lebten.

Heute, ein Jahr nach seiner Freilassung, hat Schalit zugenommen, er spielt Basketball und fährt Fahrrad. Vieles Selbstverständliche bereitet ihm noch immer große Freude: „Die Natur zu sehen, nach draußen zu gucken, das Fenster und die Tür zu öffnen, Menschen zu sehen, in den Straßen herumzuschlenden, von Mama umarmt zu werden.“

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