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7. Februar 2012

Schweden: Malmö verdrängt sein neues Antisemitismus-Problem

Von Paulina Neuding, erschienen auf Welt Online, 6.2.2012. Der Antisemitismus in der drittgrößten Stadt Schwedens nimmt zu, vor allem durch muslimische Migranten. Doch wer das anspricht, wird mit dem Massenmörder Breivik verglichen. (Die Autorin ist Juristin und Chefredakteurin der schwedischen Zeitschrift „Neo“)

Als der 15-jährige Samir Ardiwan vergangenen Monat im südschwedischen Malmö beerdigt wurde, folgten Hunderte von Menschen dem Sarg in einer Prozession durch die Innenstadt, in einer öffentlichen Manifestation der Trauer und gegen Gewalt.

Ardiwan war im Stadtteil Rosengård erschossen worden, ein Gebiet, nur wenige Minuten von der Innenstadt entfernt, das als das schlimmste Getto Skandinaviens gilt. Noch sind der Polizei Täter und Motiv unbekannt, aber der Mord ist einer von zweien innerhalb kurzer Zeit in der Stadt, die zu einer intensiven Debatte in Schweden über Gewalt und Kriminalität geführt haben.

Malmö ist Schwedens drittgrößte Stadt,

voller Kreativität und Energie, mit einem intensiven Nachtleben. Aber sie ist auch gefährlicher geworden für ihre Einwohner. Die Schwerkriminalität ist in Malmö teilweise höher als in Stockholm, besonders bei Raubüberfällen.

Menschen in Malmö machen sich auch mehr Sorgen über die Kriminalität als die Stockholmer, und nicht nur wegen ihrer eigenen Sicherheit. Schon im Jahr 2009 hatten 30 Prozent der Bewohner in Stockholm erklärt, sie hätten Angst davor, dass ihre Angehörigen Opfer von Kriminalität werden – in Malmö waren es 45 Prozent.

Verbrechen aus Hass gegen Juden nehmen zu

Wenige Tage nach Ardiwans Beerdigung zog eine andere, viel kleinere Prozession durch die Malmöer Straßen: der sogenannte Kippa-Spaziergang, organisiert von der jüdischen Gemeinde. Nach dem Sabbat-Gottesdienst am Samstagmorgen treffen sich Gemeindemitglieder und gehen durch die Stadt – mit einer Kippa auf dem Kopf und einem sichtbaren Davidstern an ihrer Jacke.

Die Juden Malmös wollen zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen, trotz des Anstiegs von Verbrechen, die aus Hass gegen Juden in den vergangenen Jahren verübt worden sind.

Das amerikanische Simon Wiesenthal Center hatte im vergangenen Jahr eine Delegation nach Malmö geschickt, nachdem man darauf aufmerksam geworden war, dass einige jüdische Familien die Stadt wegen des zunehmenden Antisemitismus verlassen hatten. Das von dem Nazi-Jäger Simon Wiesenthal gegründete Zentrum hat eine Reisewarnung herausgegeben, in der man Juden, die Südschweden besuchen, zu „extremer Wachsamkeit“ ermahnt.

Antisemitismus geht von muslimischen Einwanderern aus

Vertreter der jüdischen Gemeinde in Malmö erklärten, der Hass stamme nicht mehr in erster Linie von Rechtsextremen und Neonazis, sondern von Einwanderern aus muslimischen Ländern. Es ist eine Art von Antisemitismus, der mit ihnen nach Malmö gekommen ist – und damit fällt es schwedischen Politikern und Journalisten offenbar schwer, Stellung zu beziehen.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Debatte in Schweden von denen in Nachbarländern wie Norwegen oder Dänemark: In Schweden lässt man schwierige Fragen über Integration lieber unbeantwortet, man bleibt vermeintlich politisch korrekt. So war es vor dem Massenmord in Oslo am 22. Juli, und so ist es auch danach geblieben.

Die „Diskussion“ nimmt zum Teil bizarre Züge an. So hat Schwedens größte Zeitung „Aftonbladet“ vor Kurzem Kritiker an der politischen Korrektheit in der Integrationsdebatte quasi mit dem Massenmörder von Oslo gleichgesetzt: Schließlich sei es Anders Behring Breivik gewesen, der sich die Idee einer Verschwörung der politisch Korrekten zu eigen gemacht habe. Dieser Artikel war aber selbst für die schwedische Debatte ein Tiefpunkt.

Integrationspolitik der Stadt ist gescheitert

Einzeln betrachtet, haben die jüngsten Morde in Malmö und die Angriffe auf die Juden der Stadt nichts miteinander zu tun. Beide zeigen aber deutlich, dass der Staat in der drittgrößten Stadt Schwedens einen Schritt zurückgetreten ist. Sie sind auch ein Zeichen dafür, dass die Integrationspolitik der Stadt gescheitert ist.

Aber während sich die Malmöer darüber große Sorgen machen, fehlen den Politikern und Journalisten oft die Worte. Von diesem Schweigen haben Populisten profitiert. Die Schwedendemokraten (SD), eine Partei mit Wurzeln in der schwedischen Neonazi-Bewegung, sind mit 10,4 Prozent der Stimmen die drittgrößte Partei Malmös.

In Gegenden wie Rosengård, wo der 15-jährige Ardiwan erschossen worden ist, ist die Situation alarmierend. Der Bezirk, dessen Name „Rosengarten“ bedeutet und dessen von Grünflächen und Fußballfeldern umgebene Mietshäuser einst als Monumente des schwedischen Wohlfahrtsstaats galten, ist ein Symbol der Gettoisierung geworden.

Eine Zeit lang fuhren die Feuerwehr und Krankenwagen nicht ohne Polizeieskorte nach Rosengård, nachdem die Mitarbeiter regelmäßig Opfer von Gewalt und Steinwürfen geworden waren. Kürzlich, als ich an einer jüdischen Beerdigung in der Gegend teilnahm, wurden die Männer beim Verlassen des Friedhofs ermahnt, ihre Kippas abzunehmen. „Vergessen Sie nicht, dass wir in Rosengård sind“, lautete die einfache Begründung.

Katastrophale Arbeitslosigkeit unter Migranten

Im Stadtteil Seved ist die Struktur ähnlich. Der Großteil der Bevölkerung sind Einwanderer, und weniger als die Hälfte der Erwachsenen haben eine Arbeit. Jugendbanden kontrollieren Teile der Gegend, mit Drogen wird offen gehandelt. Seit einigen Wochen weigern sich die Angestellten der schwedischen Post, in Seved Briefe auszutragen – die Drohungen und die Gewalt seien den Briefträgern nicht mehr zuzumuten.

Das offizielle Schweden reagiert in einer Weise, die typisch für Fragen der gescheiterten Integration ist: Bezirksbürgermeister Anders Malmquist sagte, er sei mit der Situation zufrieden – sie biete eine Möglichkeit, arbeitslose Jugendliche aus der Gegend anzustellen, um die Briefe auszutragen. Junge Erwachsene können auf diese Weise Einblick in die Arbeit der Post bekommen.

Die Arbeitslosigkeit in Seved und Rosengård hat tatsächlich katastrophale Ausmaße erreicht. Die meisten der Einwanderer, die in Schweden aus humanitären Gründen Obdach gefunden haben, müssen sieben Jahre auf einen Job warten. Bei einigen Gruppen sind die Zahlen noch drastischer: Nur 35 Prozent der Somalier haben nach zehn Jahren in Schweden Arbeit gefunden.

Dank der Steuersenkungen und Liberalisierungen der bürgerlichen schwedischen Regierung wurden zwar 200.000 neue Jobs geschaffen. Es fehlen aber immer noch 450.000 Vollzeitarbeitsstellen, und jedes Jahr erhalten weitere 100.000 Einwanderer eine Aufenthaltserlaubnis in Schweden.

Örtliche Medien verschweigen das Antisemitismus-Problem

Im stark segregierten Stockholm sind die Probleme der Integration für Angehörige der Ober- und Mittelschicht nicht so sichtbar wie in Malmö. Wer eine Gegend besuchen will, die von Arbeitslosigkeit und Kriminalität gekennzeichnet ist, muss die U-Bahn in die Peripherie nehmen. In politischen Zirkeln der Hauptstadt spricht man zurzeit mit besonderer Verachtung von den provinziellen Südschweden, die ständig über Probleme der gescheiterten Integration redeten.

Frederick Sieradzki ist ein Jude aus Malmö und einer der Initiatoren des Kippa-Spaziergangs. Nach dem kleinen Protestmarsch durch die Stadt sprach er über das Bild, das die örtlichen Medien von Gewalt und Drohungen gegen Juden in Malmö zeichnen. „Man schreibt nicht, dass es Muslime sind, die dahinterstecken. Ich glaube einfach, dass es damit zu tun hat, dass die jüdische Gruppe so viel kleiner ist als die muslimische“, sagt Sieradzki.

„Es ist nur eine Minorität der Muslime, die uns droht, aber man muss doch darüber sprechen können.“ Zu seinem Kippa-Spaziergang versammelten sich dieses Mal ungefähr 20 Personen. Unter ihnen war ein einziger Nichtjude, ein schwedischer Journalist, der seine Solidarität zeigen wollte.

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