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4. Dezember 2011

Mit der Deportation begann die Schnäppchenjagd

Von Sven Felix Kellerhoff, erschienen auf Welt Online, 4.12.2011. Vor aller Augen: Neu entdeckte Fotos aus Lörrach von 1940 zeigen, wie sich die Nachbarn das Eigentum der abtransportierten Juden aneigneten.

Deutsche lieben Schnäppchen. Wenn es überhaupt so etwas wie „Volkscharaktere“ gibt, dann gehört die Schwäche für Sonderangebote in jedem Fall zum deutschen Charakter. Ganz gleich, ob es sich um tatsächlich günstige Gelegenheiten handelt oder nur um vermeintliche Chancen zum Sparen, immer findet sich hierzulande eine große Zahl von Interessenten. Das gilt sogar dann, wenn es erkennbar moralisch zutiefst verwerflich ist zuzugreifen.

Die Anzeige von Wilhelm Pfister, vereidigter Treuhänder und amtlich bestellter Versteigerer im Südbadischen Lörrach, war unmissverständlich. Im örtlichen „Oberbadischen Volksblatt“ erscheint am 21. November 1940 zum ersten Mal die Ankündigung zweier „Fahrnis-Versteigerungen“ für den nächsten Tag. Pfister lud dazu für morgens zehn Uhr in eine Wohnung in der Stettengasse 5a und vier Stunden später in die Adolf-Hitler-Straße 80.

Der Abtransport geschah in aller Öffentlichkeit

Detailliert beschrieb der Konkursverwalter, was er anbieten würde: „ein modernes Schlafzimmer, neuwertig, bestehend aus zwei kompletten Betten, zwei Nachttischchen, einem dreiteiligen Schrank, einer Frisierkommode mit dreiteiligem Spiegel“ sowie „eine moderne Kücheneinrichtung“ mit Büfett, Tisch und Stühlen, ferner Rohrsesseln, einem Liegestuhl, Kokosläufern, Porzellanservices und anderem Hausrat. Noch umfangreicher war die Liste bei der zweiten Versteigerung an diesem Tag; hier kam ein kompletter Hausstand unter den Hammer.

Die Lörracher, die diese Anzeige lasen, mussten wissen, warum diese Wohnungen und in den folgenden Wochen mindestens neun weitere von Pfister per Versteigerung geräumt wurden. Denn buchstäblich vor aller Augen waren am 22. Oktober 1940 die Juden aus Südwestdeutschland aus ihren Wohnungen geholt und per Zug abtransportiert worden.

Das unfreiwillige Ziel der etwa 6500 Menschen aus Baden und der Saarpfalz war Frankreich, genauer: der unbesetzte Teil des besiegten Frankreichs. Wie schon einmal im Oktober 1938 bei der „Abschiebung“ staatenloser Juden vor allem aus Berlin ins Niemandsland zwischen Deutschland und Polen hatten die deutschen Behörden vor, die deportierten Menschen sich selbst zu überlassen.

Schließlich ließ die Regierung von Vichy-Frankreich, die nicht vorbereitet gewesen war, die deutschen Juden ins viel zu kleine Flüchtlingslager Gurs nahe den Pyrenäen bringen. Zwei Jahre später wurden mindestens 2653 von ihnen nach Auschwitz transportiert und dort ermordet; weitere 1750 waren bereits in Gurs gestorben. Ungefähr 70 Prozent der 1940 deportierten südwestdeutschen Juden erlebten das Ende der Hitler-Herrschaft nicht. Ihr Eigentum hatten sie zum allergrößten Teil zurücklassen müssen; es „verfiel“ laut einer Anweisung des regionalen NSDAP-Gauleiters Roland Wagner dem Land Baden.

Schon bisher war eine Serie von Fotos bekannt, die bei der Deportation in Lörrach am 22. Oktober 1940 aufgenommen worden war. Vor kurzem erst fand das Stadtarchiv der südlichsten Stadt Deutschlands in seinen Beständen eine weitere Serie, die vier Wochen später aufgenommen wurde – und die Versteigerung des zurückgelassenen jüdischen Hausrates zeigt. Jetzt sind diese Bilder in der Berliner Dokumentation Topographie des Terrors auf dem Gelände der früheren Gestapo-Zentrale zu sehen; zuvor waren sie nur einmal kurz in Lörrach selbst ausgestellt.

Versteigerungen gab es in vielen Städten

Wahrscheinlich hat ein Lörracher Kriminalpolizist namens Gustav Kühner die Bilder gemacht; der damals 45-Jährige war unter anderem für den polizeilichen Erkennungsdienst in der Kreisstadt zuständig. Er fotografierte wenigstens manchmal im dienstlichen Auftrag; ob die Bilder von den „Judenauktionen“ privat oder dienstlich entstanden, ist nicht zu klären.

Solche Versteigerungen gab es in zahlreichen deutschen Städten, allerdings meist erst ab Herbst 1941, also nach dem Beginn der Massendeportation in Ghettos auf polnischem und sowjetischem Boden oder direkt in die Mordstätten. Aus Berlin sind einige Schilderungen ausländischer Journalisten bekannt, die „Judenauktionen“ mit eigenen Augen erlebten.

Howard K. Smith zum Beispiel, ein junger US-Korrespondent, schrieb noch während des Zweiten Weltkrieges: „Wie Schakale um einen Kadaver kämpften da gestandene ,Arier’ um ein paar mickrige Dinge, die der russische Krieg rar gemacht hatte. Die Regierung erzielte für das alte Zeug gute Preise.“ Auch aus anderen Orten sind Berichte bekannt, aber Fotos dieser „Vermögensverwertung“ gab es bisher mit Ausnahme von zwei Aufnahmen aus Hanau nicht.

Hier liegt die besondere Bedeutung des Lörracher Fundes. Über die Versteigerung in der vormaligen Wohnung der Familie Grunkin in der Schulgasse 29 etwa berichtete eine Augenzeugin 1949: „Wie eine verführte Herde haben sich die Lörracher um die Sachen gestritten. Mit wehem Herzen sah ich die Szenen an.“ So wild müssen sich die nach Schäppchen gierenden Einwohner aufgeführt haben, dass sich die Vermieterin des Hauses Adolf-Hitler-Straße 80 beim Landrat über die Beschädigungen an Gebäude und Garten beschwerte. Tatsächlich waren die Rosenstöcke niedergetreten und der mit Rasen bewachsene Vorgarten ruiniert worden.

Die Bilder zeigen den Ansturm auf teilweise genau identifizierbare Häuser. Das Gedränge ist unübersehbar groß, es geht zu wie beim Winterschlussverkauf. Die Stimmung, soweit man Gesichter erkennen kann, war offenbar gut. Bei manchen Auktionen wurde der Hausrat auf Tischen auf dem Bürgersteig angeboten, bei anderen lehnte sich ein Uniformierter aus dem Fenster einer Erdgeschosswohnung.

Die Alltäglichkeit der Verfolgung

Von Rückgaben des geraubten und versteigerten Eigentums an seine eigentlichen Besitzer oder deren Erben nach 1945 ist im Fall Fall Lörrach nichts bekannt geworden – ähnlich wie bei anderen, allerdings nur schriftlich dokumentierten „Judenauktionen“ in Berlin oder Hamburg.

In einem Begleitbändchen hat Topographie-Chef Andreas Nachama die Vorgeschichte zusammenfassen und die Bilder aus beiden Fotoserien abdrucken lassen. Die kleine Ausstellung, die noch bis zum 8. Januar 2012 zu sehen ist, bietet einen Einblick in die Alltäglichkeit der Judenverfolgung und des Profits, den unzählige Deutsche daraus zogen. Profiteure waren sie auf jeden Fall – machte sie das auch zu Mittätern? Auf diese klare Frage gibt es keine einfache Antwort.

Andreas Nachama, Klaus Hesse (Hrsg.): „Vor aller Augen“. Fotografien aus Lörrach 1940. (Hentrich & Hentrich, Berlin. 104 Seiten, 9,80 Euro).

Diesen Artikel und eine Auswahl an Fotografien finden Sie unter welt.de.

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