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9. Mai 2012

Hannes Stein zum Tode von Maurice Sendak

Von Hannes Stein, erschienen auf Welt Online. Der Autor von „Wo die wilden Kerle wohnen“ ist tot. Mit seiner Geschichte von Max, der eine lange kurze Reise tut, schrieb Maurice Sendak Weltliteratur. Die „wilden Kerle“ waren seine Verwandten. Jetzt ist Sendak im Alter von 83 Jahren gestorben. Von ihm stammt vielleicht der schönste Satz, mit dem je ein Buch, sei es für Erwachsene oder Kinder, aufgehört hat: „Und es war noch warm.“ Davor ist allerhand passiert: Der kleine Max hat in seinem Wolfskostüm allerhand Faxen gemacht und ist wild herumgesprungen, bis es seiner Mutter zu viel wurde und sie ihn ohne Abendessen ins Bett schickte. In seinem Schlafzimmer wuchs dann ein dichter Fantasiewald, und Max ist von dort aus mit seinem Boot ein Jahr lang über den Ozean gefahren, bis in ein Land, wo schrecklich anzusehende Ungeheuer hausen.

Max wurde zu ihrem König und hat toll mit ihnen getanzt, bis er sich plötzlich einsam und unglücklich fühlte – das Kind wollte nach Hause. Dort stand noch immer sein Abendessen und wartete auf ihn – voilà: „Und es war noch warm.“

Allerdings ist dies eine Fehlübersetzung. Maurice Sendak, der das berühmte Kinderbuch (ist es das berühmteste der Welt?) 1963 schrieb und illustrierte, hatte die Geschichte von Max und den wilden Kerlen so aufhören lassen: „And it was still hot.“ Dies führte umgehend zu Krach mit dem Verleger; der wollte nämlich, dass es „warm“ heißen sollte, nicht „hot“. Maurice Sendak blieb stur. Er war eben nie ein Mann für lauwarme Geschichten, er war der Mann fürs Heiße, fürs Gefährliche.

Die Ungeheuer waren seine Verwandten

So kam es, dass eigentlich alle seine Kinderbücher gleichzeitig ungeheuer populär wurden – und bei den Pädagogen umstritten blieben. Nicht kindgerecht, hieß es. Zu wenig artig, zu wenig harmlos. Die Buben und Mädchen könnten sich fürchten. Sie könnten anhand dieser Bücher begreifen, dass die Welt manchmal ein eher ungemütlicher Ort ist. Als ob die das nicht von klein auf und ganz von selber wüssten!

Nehmen wir etwa die Sache mit den wilden Kerlen. Jeder Psychologe wird sie kreuzbrav als Metaphern für die Leidenschaften deuten: „Wo die wilden Kerle wohnen“ von Maurice Sendak degeneriert dann zu einer moralisierenden Fabel darüber, wie der kleine Maxe lernt, seine eigenen Gefühle zu bändigen. Nichts da! Sendak, der 1928 in Brooklyn als Kind polnisch-jüdischer Eltern geboren wurde, erzählte in einem Interview, dass die Ungeheuer sich einer viel konkreteren Inspiration verdanken: Sie waren seine Verwandten, Onkel und Tanten aus Europa, die nur oder hauptsächlich Jiddisch sprachen.

„Sie packten und kniffen dein Gesicht und glaubten, das sei herzlich“, sagte. „Und ich wusste, dass meine Mutter eine schreckliche Köchin war, es dauerte auch viel zu lange, es war also gut möglich, dass sie mich oder meine Schwester oder meinen Bruder essen würden … Das also sind die wilden Kerle. Sie sind Fremde, die in Amerika verloren sind, keine Sprache haben. Und Kinder die grauenhafte Angst vor ihnen haben und nicht wissen, dass ihre Gesten, ihre Kneifereien ins Fleisch, lieb gemeint sind.“ Der Titel „Wo die wilden Kerle wohnen“ ist eigentlich eine Übersetzung aus dem Jiddischen – „wild things“ sind „wilde chajes“, mit diesem Wort ermahnte man traditionell jüdisch-polnische Kinder: „Sei nischt keine wilde chaje!“

Drei Hitlers backen einen Kuchen

Noch lieber als die „wilden Kerle“ war Sendak selbst allerdings ein anderes seiner Werke: „In der Nachtküche“. Eine Traumvision: Ein kleiner Junge namens Mickey driftet in der Dunkelheit aus seinem Bett davon und findet sich in einem Riesenbacktrog wieder, in dem drei Bäcker, die alle ein bisschen wie Oliver Hardy aussehen – fett und mit Bärtchen auf der Oberlippe – den Teig für einen Kuchen zusammenrühren.

Hier erregte Anstoß (zumindest in Amerika), dass der Junge nackt ist: Sein kindliches Geschlechtsteil ist auf den Bildern deutlich zu erkennen. Gar keinen Anstoß erregte seltsamerweise etwas Anderes: die beinahe schon übertrieben deutliche Anspielung auf den Holocaust. Denn die drei gemütlichen und gewaltigen Oliver-Hardy-Bäcker, die nichts dabei finden, Kinder in ihren Brei zu rühren, ergeben zusammen ja irgendwie einen einzigen Hitler.

Maurice Sendak wuchs, wie er sich erinnert, mit der ständigen Ermahnung auf, dass seine Cousins und Cousinen in Europa jetzt schon alle tot seien. „Du hast überlebt, wage es also jetzt nicht, schlechte Noten aus der Schule nach Hause zu bringen!“ Auch das ist der Stoff, aus dem Maurice Sendak seine betörend schönen, seine verstörenden und großartigen Kinderbücher gemacht hat.

Melville, Dickinson und Mozart

Er war alles andere als ein Naivling. Mit Märchenonkeln oder betulichen Kindertanten hatte dieser Schriftsteller und Illustrator nichts am Hut. Seine drei Hausgottheiten hießen: Hermann Melville, Emily Dickinson und Mozart. Einen Band mit Lyrik von Dickinson trug er auf Schritt und Tritt mit sich herum; wenn es ihm schlecht ging, dann las er ganz schnell drei Gedichte von ihr. „Sie ist so mutig“, sagte er. „Sie ist so stark. Sie ist eine dermaßen sexy, leidenschaftliche, kleine Frau.“

Und wenn er Mozart hörte, dann war er für Momente versöhnt mit dem Universum, über das er sich ansonsten wenig Illusionen machte. „Wenn es einen Sinn des Lebens gibt, dann besteht er darin, dass ich Mozart höre.“

Sendak war ein begnadeter Künstler in einem Metier, das die meisten Leute (warum eigentlich?) weniger ernst nehmen als das Fach der Romanciers, der Bildhauer oder Maler. Und er hat in seinem Metier neue Maßstäbe gesetzt. Wenn Bilderbücher für Kinder heute etwas weniger dumm sind als früher, wenn die pädagogische Absicht in ihnen nicht mehr ganz so penetrant den Zeigefinger reckt, dann haben wir das vor allem ihm zu verdanken.

Er glaubte an die Macht der Wahrheit

Sein „Wo die wilden Kerle wohnen“ mutierte von einem Buch erst zu einer Oper, dann (2009) zu einem wunderbaren Film, für den der Schriftsteller Dave Eggers das Drehbuch schrieb; beide Adaptionen hatten Sendaks ausdrücklichen Segen. Er machte ein Kinderbuch aus der Oper „Brundibar“, die im KZ Theresienstadt aufgeführt wurde – und fügte einen Schluss an, der großartig und grauenhaft realistisch ist.

Im Original tragen die tapferen Kinder ja zusammen mit ihren Freunden, den Tieren, den Sieg über den Tyrannen davon; Sendak aber lässt ihm das letzte Wort. In einem Postscriptum droht Brundibar: Ich bin besiegt, aber nur für dieses Mal. Ich komme wieder. Ich bin noch da. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, hat die Lyrikerin Ingeborg Bachmann geschrieben. Maurice Sendak glaubte, dass die Wahrheit schon Kindern zugemutet werden kann.

Ein Privatleben hatte dieser große Künstler übrigens auch. Bis zu dessen Tod im Jahre 2007 lebte Sendak mit dem Psychoanalytiker Eugene Glynn zusammen; nach seinem Tod spendete er eine Million Dollar an eine jüdische karitative Einrichtung, die vor allem Kinder medizinisch betreut, damit eine Klinik nach seinem Freund benannt wurde. „Ich wollte normal sein, damit meine Eltern glücklich waren“, erklärte er vor ein paar Jahren. „Sie durften es nie, nie, nie, nie, nie wissen.“ Aber die Schwulen in Amerika wussten natürlich längst, dass dieses Genie zu ihnen gehörte. Am Dienstag ist Maurice Sendak im Alter von 83 Jahren nach einem Schlaganfall in Danbury (Connecticut) gestorben.

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