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14. Mai 2013

Israel ist anders

Am 14. Mai 2013 ist der jüdische Staat 65 Jahre alt geworden. Er ist so jung wie kaum ein anderes Land. Seine Gesellschaft hat nichts mit unseren Vorurteilen zu tun. Zum Glück. Ein Geburtstagsgruß von Marko Martin, erschienen in der Welt vom 14.5.2013. 

Er hatte es doch nur gut gemeint, der damalige Ministerpräsident eines unserer Bundesländer: Klezmer-Musik hatte er sich zur Untermalung seiner Auftritte während einer Israel-Reise gewünscht – vermeintlich authentisch und ganz gewiss etwas für Herz und Seele. Nun konnten aber selbst die israelischen Improvisationsprofis nicht so schnell die gewünschte Truppe zusammenstellen, weshalb der darob verärgerte Ministerpräsident eine deutsche Klezmerband mitbrachte, der es danach oblag, alle Termine von Haifa über Tel Aviv bis Jerusalem mit melancholischer Gettomusik zu begleiten, die Rücken pittoresk gebeugt, die Schultern hochgezogen. Die Nachtseite dieses freundlichen Projektionswahns war ein paar Jahre zuvor offenbar geworden, als ein angesäuselter Musiker der Deutschen Oper zu Berlin in einer Tel Aviver Hotelbar seine Rechnung mit „Adolf Hitler“ unterschrieb; der Romancier F.C. Delius hat die Geschichte später in seinem Roman „Die Flatterzunge“ konzis literarisiert.

Nun wird der Staat Israel am heutigen Tag 65 Jahre alt, und die erzdeutsche Melange aus wohlmeinendem Paternalismus und spätpubertärem „Tabubruch“ könnte besonders in diesen Tagen wieder puddinghaft schwabbern – von der besorgten Rede an „unsere israelischen Freunde“ bis zur rotzigen Schmähung des „kolonialen Zionistenstaates“. Wie wäre es deshalb, man würde einmal versuchen, von der schiefen Projektionsebene herunterzukommen und sich dafür dem heterogenen Alltag einer quicklebendigen Einwanderer-Demokratie auszusetzen? Denn selbst bei einem flüchtigen Blick auf den Alltag beantwortet sich die scheinheilige Frage, „ob man Israel denn auch kritisieren dürfe“ von selbst. Warum nicht – aber wozu, wo doch im Lande Selbstkritik als wahrer Volkssport betrieben wird?

Hinterfragen in Permanenz

Dieses Hinterfragen in Permanenz hat übrigens nichts von der Großsprecherei an deutschen Stammtischen. Denn nicht nur Zeitungen wie „Ha’aretz“ verfolgen jedes Regierungshandeln mit Kritik. Auch die Intellektuellen vom berühmten Amos Oz bis zu den besonders bei der jüngeren Generation beliebten Romanciers Nir Baram melden sich andauernd zu Wort – von den Fragen der demoralisierenden Siedlungspolitik bis hin zu religiösen, sozialen und Immigrationsthemen. Freilich sind solche Kommentare nicht allein für ein Beifall spendendes Links-Milieu bestimmt, sondern kommen zur besten Sendezeit im Fernsehen oder auch in eher konservativen Zeitungen.

Seltsam, dass deutsche Intellektuelle, die doch immer begierig sind, „aus der Vergangenheit zu lernen“, keinen Sinn für eine streitbar ausdifferenzierte israelische Gegenwart haben, von der sie sich eine Scheibe abschneiden sollten: Ethische Klarheit und schärfste Kritik, so könnten sie von ihren dortigen Kollegen lernen, muss nicht erkauft sein mit moralisierendem Manichäismus und einer selbstverliebten Blindheit gegenüber den praktischen Gegebenheiten, den natürlichen Ambivalenzen politischen Tuns. Gerade für liberale Zionisten, die sich auf die Ideen der Staatsgründer berufen, ist nämlich die Besatzung der Palästinensergebiete ein moralisches ebenso wie ein Sicherheitsproblem: Wie soll Israel jüdisch und demokratisch zugleich bleiben, wenn innerhalb seiner Grenzen immer mehr Palästinenser ohne volle Bürgerrechte leben? Worauf sie freilich sofort die Frage anschließen: Doch was könnte garantieren, dass ein zu gründender Palästinenserstaat nicht ebenso zu einer Terrorhochburg würde wie der seit 2005 von israelischen Soldaten geräumte Gazastreifen?

Schicksalsfrage des jüdischen Staates

Dass es sich bei diesen Überlegungen nicht um theoretische Spitzfindigkeiten, sondern um eine Schicksalsfrage des jüdischen Staates handelt, liegt auf der Hand. Was jedoch „gerade für uns“ lehrreich sein könnte, ist das Niveau der Debatte. So erscheint in diesem Sommer in deutscher Übersetzung ein Roman des jungen und erklärt regierungskritischen Assaf Gavron, der sich der (ebenfalls heterogenen) Welt der Westbank-Siedler nicht etwa mit dem im politischen Berlin so beliebten Zeigefinger nähert, sondern mit Neugier und Detailkenntnis – allerdings auch mit mythenferner Skepsis.

Wem dies nun zu abgehoben erscheint, könnte sich als Israel-Besucher einfach nur an die Strandpromenade von Tel Aviv begeben. Denn selbstverständlich – siehe die obige Klezmer-Episode – ist auch dieser mit den Jahrzehnten immer schöner gewordene Ort längst zu einer auswärtigen Projektionsfläche geworden. Für die Generation der jüngeren deutschen Reisenden, ostentativ unbelastet von der Vergangenheit, gilt Tel Aviv inzwischen vor allem als Party-Mekka. Tatsächlich aber ist gerade jene schmale Promenade ein perfekter Spiegel israelischer Vielfalt: Hier kommen aus dem südlich gelegenen, traditionellen Jaffa gern die israelischen Araber herbei, hier rennen im mediterranen Sonnenschein die Kinder der äthiopischen mit denen der jemenitischen und russischen Juden um die Wette, zeigen Jogger ihre Muskeln, flirten nigerianische Vertragsarbeiter in holprigem Hebräisch mit philippinischstämmigen Seniorenbetreuerinnen, während sich hinter dem Hilton-Hotel sowohl der Orthodoxen-Strand wie auch der nicht minder beliebte Gay-Beach befindet.

Wer jetzt vermutet, hier werde eine Postkarten-Idylle gepinselt, sollte unbedingt haltmachen vor jener Plakette am Strandmäuerchen, welche an den Untergang des Schiffes „Altalena“ erinnert. Nur wenige Wochen nach der Staatsgründung im Mai hatte David Ben Gurion den Befehl gegeben, den Waffentransporter auf Grund zu schießen, da deren Besatzung, Mitglieder der radikal-jüdischen Irgun-Miliz, sich nicht der neuen Regierung unterstellen wollten. Polithistorische Fußnoten? Im Gegenteil. Häufig bilden sich vor der Erinnerungstafel Grüppchen, die hier vielstimmig ins Gegenwärtige hineininterpretieren: Sollte sich eine heutige Regierung nicht ebenso streng gegenüber der Siedler-Lobby zeigen, die längst nicht mehr das Wohl des Staatsganzen im Sinn hat? So wiegt die Debatte – gänzlich ohne Grass oder Jakob Augstein – hin und her, ehe langsam die Sonne orange im Meer versinkt und die jüngeren Mitdiskutanten in Richtung ihrer Partyklubs verschwinden: Hedonismus mit Hirn, Wehrbereitschaft voll ziviler Reflexion – und kein Klezmer-Kitsch weit und breit. Happy Birthday, Israel!

Von Marko Martin erschien jüngst: „Kosmos Tel Aviv. Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt“.

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