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14. August 2012

Großer Protest gegen rechtsextremes Pressefest

Mit dem bislang größten Demokratiefest in der Region Pasewalk haben Tausende Menschen gegen das NPD-Pressefest der „Deutschen Stimme“ in der Nachbargemeinde Viereck protestiert. Während sich am Samstag, 11.8.2012, auf dem abgeschotteten Gelände eines Bauernhofes nach Polizeiangaben etwa 800 Vertreter und Anhänger von NPD und Kameradschaften trafen, formierten sich entlang der Straße von Pasewalk nach Viereck etwa 2.000 Demonstranten zu einer Menschenkette für Demokratie und Toleranz.

Von Rico Grimm, erschienen auf Spiegel Online. In Vorpommern hat die NPD vielerorts ein leichtes Spiel. Als sie ihr Pressefest in ein Dorf bei Pasewalk verlegte, rechnete sie mit wenig Widerstand. Doch es kam anders: Ein Theatermacher und ein Bürgermeister organisierten den Protest – und 2000 Menschen stellten sich den Rechten entgegen.

Der Storch marschiert zu Blasmusik über die Landesstraße 321, die an diesem Samstag zwischen Pasewalk und Viereck zur „Demokratiemeile“ geworden ist. Die Menschen, die entlang des Radweges stehen, kennen die Figur. Storch Heinar macht sich regelmäßig über Nazis lustig und ist zum Symbol des Widerstands gegen Rechtsextreme geworden. „Jetzt hat Storch Heinar die Möglichkeit, ein Spalier aufrechter Demokraten abzuschreiten“, sagt sein Kompagnon und bedient sich des Vokabulars der Rechten, die sich rühmen, „aufrechte Demokraten“ zu sein.

Julian Barlen leitet das Projekt Storch Heinar. Er sagt: „Storch Heinar versucht, den Leuten Mut zu machen.“ Das ist wichtig, wäre in Pasewalk aber gar nicht nötig gewesen. Denn als die „Deutsche Stimme“, die Parteizeitung der NPD, ankündigte, ihr jährliches Pressefest auf einem privaten Grundstück bei Pasewalk zu veranstalten, formierte sich zum ersten Mal Widerstand in der Region Vorpommern.

Ein Bündnis aus Parteien, Kirchen und lokalen Kulturgruppen organisierte ein Marktplatzfest und die „Demokratiemeile“, die sich mit Ständen und Büdchen über 3,5 Kilometer von Pasewalk nach Viereck zog. Dort soll das Fest der NPD stattfinden.

Zu den Protestaktionen hatte das neu gegründete Bündnis „Vorpommern: weltoffen, demokratisch und bunt!“ aufgerufen, das unter anderem Pasewalks Bürgermeister Rainer Dambach angeschoben hatte. „Es gibt nicht viele positive Ergebnisse der letzten Kreisgebietsreform, aber die Solidarität ist gewachsen“, sagte Dambach.

Von dem Plan eines dreitägigen Festes ist wenig geblieben

Die Neonazis betrachten Vorpommern als „national befreite Zone“ und „nationalen Leuchtturm“. Das sagte der NPD-Landtagsabgeordnete Enrico Hamisch 2008 der „Deutschen Stimme“. Die Rechten hatten auf dem Festgelände in der Veranstaltung Konzerte organisiert, sie waren als private Veranstaltungen getarnt. Die Kameradschaften vor Ort verstehen sich als Speerspitze der Bewegung.

Zum Pressefest sollte drei Tage lang mit einschlägigen Bands gefeiert werden. Doch es gab Restriktionen: Der Veranstalter musste das Fest auf einen Tag verkürzen, der Schweinestall auf dem Gelände brannte, das Aufstellen von Zelten wurde verboten, die in der Szene beliebte Band „Lunikoff-Verschwörung“ sagte kurz vor Beginn des Festes ab.

Draußen auf dem Radweg, der zum Fest-Gelände der Nazis führt, stehen am Mittag 2000 Menschen, die sich an den Händen fassen und den Nazis sagen wollen: „Wir schauen nicht weg.“ So stand es auf Postkarten, die vorher vom Aktionsbündnis in der Region verteilt worden sind.

Landtagsabgeordnete stehen zwischen anti-rassistischen Pasewalker Skinheads und jungen CDU-Karrieristen. Auch der Mensch im Storch-Heinar-Kostüm hat sich eingereiht. Die Region streckt sich. Am Himmel knattert der Polizeihelikopter. „Keine besonderen Vorkommnisse“, heißt es bei der Polizei am Nachmittag. Die Autonomen des „Schwarzen Blocks“ sind nicht angereist. 200 Beamte reichen aus.

Einer der linken Pasewalker Skinheads, schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzes Shirt, sagt später: „Es wäre schon schön gewesen, wenn hier ein paar mehr Schwarze aufgetaucht wären.“ Mit „Schwarze“ meint er: Autonome. Er korrigiert sich dann aber schnell und sagt, dass es doch eigentlich auch ganz gut sei, denn so könne die Region zeigen, dass es eben nicht nur die üblichen „Krawalltouristen“ sind, die hier auftauchen. Er ist ein bisschen stolz auf seinen Ort.

„Mensch, das war doch was“

Auf der „Demokratiemeile“ bewegt sich die Menschenkette vom Radweg weg. Die Menschen stapfen durch das Gras am Straßenrand auf den Asphalt. Autos müssen bremsen. Der Sprecher des Aktionsbündnisses, Benno Plassmann, sagt: „Wir haben die Leute darauf hingewiesen, dass sie sich an die Gesetze halten sollen.“ Sie dürfen nicht den Weg zum Festgelände blockieren.

Benno Plassmann ist Theatermacher, er hat die Koordination des Protestes übernommen. Zu den Protestaktionen hatte das neu gegründete Bündnis „Vorpommern: weltoffen, demokratisch und bunt!“ aufgerufen, das unter anderem Pasewalks Bürgermeister Rainer Dambach angeschoben hatte. Am 5. Juli trafen sich die ersten Menschen im Pasewalker Lokschuppen. 100 Leute waren gekommen. Irgendjemand gab das Protokoll der Gründungsversammlung mit Namen und Adressen an die Nazis weiter. Die Leute hatten Angst. Aber letztlich habe das die ganze Gruppe gestärkt, sagt Plassmann. Immer mehr Menschen schlossen sich dem Bündnis an. Auf rund 1000 NPD-Anhänger aus dem gesamten Bundesgebiet kamen 2000 Demonstranten.

Mignon Schwenke, Landtagsabgeordnete für die Linkspartei in Mecklenburg-Vorpommern, sagt: „Solange ich hier in dieser Region lebe, ist das das erste Mal, dass die Menschen sagen: ‚Wir wollen die hier nicht!'“ Schon immer habe es langfristige Arbeit gegen Nazis gegeben, nun gebe es mit dem Pressefest einen konkreten Anlass für Protest.

Am Nachmittag schließlich blockiert die Menschenkette auf der Straße den Zufahrtsweg zum NPD-Fest, der Verkehr wird umgeleitet. An einer umgebauten Scheune treffen sich die Organisatoren des Protests. Sie sprechen über den Moment, als die Menschenkette sich formierte. Einer sagt: „Mensch, das war doch was!“ Sein bärtiger Kollege nickt: „Ganzkörpergänsehaut!“

Nazis? Da mach ich schnell die Augen zu!

Eine Kolumne von Georg Diez, erschienen auf Spiegel Online. Kann man Neo-Nazismus mit dem Reisebüro bekämpfen? Ob man den Opernsänger mit Hakenkreuz-Tattoo nimmt oder die Ruderin mit einem Ex-NPD-Mitglied als Freund – am liebsten würde man sie aus dem Gesichtsfeld verbannen. Die Ursachen für Rechtsradikalismus bleiben ungeklärt.

Was ist rechts? Wer ist rechts? Wie viele sind rechts? Was macht man mit rechts? Kann man rechts nicht doch verbieten, vergessen, übermalen, ignorieren, wäre das nicht viel bequemer? Und wenn man rechts nicht verbieten kann, vergessen, übermalen oder ignorieren, kann man es dann bitte wenigstens heimschicken?

Und was ist rechtsextrem? Wer ist rechtsextrem? Kriegt man das so leicht aus seinem Kopf raus, wie es rein geht? Schauen die Männer alle gefährlich aus? Oder ist es gefährlicher, wenn sie harmlos aussehen und eine Brille auf der Nase haben? Und tragen die Frauen tatsächlich alle extrem blond gefärbte Haare, so blond, dass man schon fast geblendet wird, wenn man hinschaut?

Denn dieses Bild auf jeden Fall bleibt, ganz egal, wie die Sache ausgeht, was dran war, wer sich richtig und wer sich falsch verhalten hat, was eh, so scheint es, kaum mehr geklärt werden wird – das alles spielt keine Rolle, so ist das in der Mediengesellschaft: Das Bild der blonden Nadja Drygalla gehört nun zur Ikonografie der bürgerlichen Angst.

Die Diskussion um Drygalla war dabei ähnlich bizarr wie die um das Hakenkreuz-Tattoo des russischen Opernsängers Evgeny Nikitin, der sein Bayreuth-Debüt absagen und abreisen musste, weil man im Hause Wagner natürlich keine Nazi-Symbole duldet – es waren Schrumpfformen einer ewigen deutschen Debatte: In beiden Fällen wurde schnell entschieden, in beiden Fällen musste die unangenehme Person verschwinden, in beiden Fällen waren es eher technische und taktische als inhaltliche Diskussionen, ganz so, als könne man Ideologie mit dem Reisebüro bekämpfen.

Aber ist denn etwa wirklich die „fundamentale Frage der ganzen Debatte“, so beschrieb es die „Süddeutschen Zeitung“: „Warum wurde das Verhältnis der Ruderin zu einem früheren Neonazi erst nach ihrem Auftritt bekannt?“ Ist nicht die viel interessantere Frage, warum wir so überrascht sind, dass Nazis, Schläger oder NPD-Funktionäre eben auch Frauen haben oder Freundinnen, die in unserem wohlsortierten Leben auftauchen und plötzlich durchs Fernsehbild rudern – ganz einfach, weil es längst normal geworden ist, dass es diese Nazis, Schläger, NPD-Funktionäre gibt.

Weg mit euch! Aus den Augen, aus dem Sinn

Die Gesellschaft ist, mit anderen Worten, an einem anderen Punkt als das Reden über die Gesellschaft: Es gibt Popper und Türken und Islamisten und Nazis, da hilft es auch nichts, eine Ruderin nach Hause zu schicken. Die Ursachen wird man damit nicht zu fassen kriegen. Das aber suggerieren diese hektischen Placebo-Diskussionen: Weg mit euch! Aus den Augen, aus dem Sinn, damit wir uns nicht mit der Normalität und der Alltäglichkeit rechten Denkens auseinandersetzen müssen.

Im Fall von Nikitin wird dabei besonders deutlich, was passiert, wenn man nicht fassen oder nicht wahrhaben will, dass ein wütender junger Mann in Russland sich vielleicht ein Hakenkreuz auf die Brust tätowieren lässt – weil er rechts ist oder dumm oder einfach nur wütend: Die Diskussion wird dann so infantilisiert, dass man sich allen Ernstes mit der Frage auseinander setzen muss, ob das Hakenkreuz auf seinem Oberarm nur eine Vorstufe zu einem anderen Tattoo war, einem achtzackigen Stern.

Aha, so so, das ist aber wirklich mal wichtig.

Wichtig ist doch viel eher die Gedankenlosigkeit, mit der das Wort von der „Sippenhaft“ gegen Nadja Drygalla die Runde machte – ein Wort, das die Nationalsozialisten ’33 bis ’45 für ihre Zwecke prägten. Wichtig ist die Frage, was es bedeutet, dass in Deutschland zehn Prozent oder mehr der Bevölkerung eine rechte oder rechtsextreme Weltsicht haben – wie in praktisch jedem Land der Welt. Wichtig ist die Frage, ob es einen rechten Status quo gibt und ob wir daran etwas ändern können. Sicher nicht, wenn wir damit zufrieden sind zu diskutieren, welcher Funktionär wen wann hätte warnen müssen.

Eine gute Nachricht zum Schluss: Das Wort löst sich übrigens auf, je länger man hinschaut:

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