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20. Juli 2012

Gesetz zur Beschneidung: Bundestag beschließt Resolution

Im Jahre 1936 – Hitler war in Deutschland seit drei Jahren an der Macht; die „Nürnberger Rassegesetze“ galten schon – veröffentlichte H. G. Wells in Großbritannien einen Essay über das seinerzeit so genannte Judenproblem. H. G. Wells gehörte zu den berühmtesten Schriftstellern der Epoche. Mit Romanen wie „Die Zeitmaschine“ und „Krieg der Welten“ hatte er geholfen, das Genre der Science-Fiction-Literatur zu begründen, außerdem stammte aus seiner Feder eine zweibändige Weltgeschichte, die ein gesamteuropäischer Bestseller wurde. „Was die Juden zusammenhält“, schrieb Wells nun in seinem Essay, „ist eine Tradition. Biblisch, talmudisch und wirtschaftlich. Durch die Feindseligkeit, die ihre Tradition hervorrief, ist ihnen eine Solidarität aufgezwungen worden. Dies ist eine Tradition des Geldscheffelns.“ Ferner schrieb er: „Der Jude … rafft sich das Eigentum, er sichert sich seine Stellung. Der Nichtjude spürt, dass er durch all diese Flinkheit um seine Chancen betrogen wird. Er ist verblüfft und wird schließlich zornig.“

„Diese Rasse hat eben etwas an sich, womit sie sich allgemein unbeliebt macht.“

In klares Deutsch übersetzt hieß das: Die Juden sind am Antisemitismus selber schuld, denn es handelt sich bei ihnen um gierige Raffzähne. Dies werde ihnen, so der britische Schriftsteller, von ihrer eigenen Tradition zwingend vorgeschrieben. Außerdem gebiete die Religion den Juden, sich als etwas Besonderes zu betrachten; deswegen könnten sie niemals Bürger eines aufgeklärten Weltstaates werden. Ein paar Jahre später erfuhr H. G. Wells vom Warschauer Getto, vom Hunger, den Misshandlungen, den Transporten nach Treblinka. Seine Reaktion war ein kaltkurzer Satz: „Diese Rasse hat eben etwas an sich, womit sie sich allgemein unbeliebt macht.“

H. G. Wells war kein Reaktionär, ganz im Gegenteil. Wells war ein Reformsozialist, ein Anhänger des Fortschritts in jeder Hinsicht – technisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich -, ein Gegner des Aberglaubens und der Religion. Er war außerdem, wie wir gesehen haben, ein wütender Antisemit.

Damit stand er in einer langen Tradition. Der französische Schriftsteller François-Marie Arouet – besser bekannt unter seinem Spitznamen Voltaire (1694-1788) -, der ein führender Kopf der französischen Aufklärung war, schrieb über Juden eigentlich nur mit Schaum vor dem Mund. „Sie wurden alle mit rasendem Fanatismus im Herzen geboren, so wie die Bretonen und Deutschen alle blond sind“, heißt es an einer Stelle über die Kinder Israels. „Mich würde nicht im mindesten wundern, wenn diese Leute eines Tages gefährlich würden für das Menschengeschlecht.“ An anderer Stelle wandte er sich direkt an die Juden: „Ihr übertrefft sämtliche Nationen mit euren unverschämten Märchen, eurem schlechten Benehmen und eurer Barbarei. Ihr habt es verdient, bestraft zu werden, denn das ist euer Schicksal.“

Voltaire stand mit seinem Judenhass nicht allein

Voltaire stand mit seinem Judenhass keineswegs allein da. Es handelt sich hier also nicht um eine Ausnahme oder ein Randphänomen. Der längste Eintrag in der von ihm und den anderen französischen Aufklärern herausgegebenen „Encyclopédie“ handelt von den Juden: eine Zusammenstellung der dümmsten und schlimmsten antisemitischen Klischees, die damals in Europa kursierten. Als Autor des Artikels gilt (leider) Diderot, der witzigste Kopf der Gruppe. Und Immanuel Kant, der große deutsche Philosoph, der die Gottesbeweise in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ widerlegte? Er wünschte den Juden, die er als „die unter uns lebenden Palästiner“ bezeichnete, immerhin eine „Euthanasie“, auf Deutsch: einen schönen Tod.

Man könnte annehmen, die Tradition des – wie sollen wir ihn nennen? – aufgeklärten Judenhasses sei nach dem großen Völkermord im 20. Jahrhundert, also nach der deutschen „Endlösung der Judenfrage“, still vor Scham verschieden. Aber weit gefehlt. Hier ist etwa Sam Harris, ein amerikanischer Neurowissenschaftler, der als Verfasser von atheistischen Traktaten an die Öffentlichkeit getreten ist: „Die Schrecklichkeit des jüdischen Leidens durch die Jahrhunderte, das im Holocaust kulminierte, macht es beinahe unmöglich, auch nur zu mutmaßen, die Juden könnten ihr Unglück auf sich selbst herabbeschworen haben“, schreibt er. Selbstverständlich tut Harris mit dem nächsten Atemzug just das, was er gerade eben noch für „beinahe unmöglich“ erklärt hatte: Er macht die Juden für ihr Unglück selbst verantwortlich. Der Grund ihres Leidens sei nämlich „ihre Weigerung, sich zu assimilieren, ihre Insularität und das Bekenntnis zur Überlegenheit ihrer religiösen Kultur – also der Inhalt ihres eigenen sektiererischen Glaubens“. Das hatte der Fortschrittsfreund H. G. Wells anno 1936 im Wesentlichen genauso gesehen.

Fatale Formen des Judenhasses

Übertroffen wird seine Polemik nur noch von dem, was der kürzlich verstorbene amerikanische Journalist Christopher Hitchens gelegentlich an Gift absonderte. In seinem Buch „Der Herr ist kein Hirte“, in dem die These durchexerziert wird, an allem Unheil in der Welt sei – immer und ausschließlich! – die Religion schuld, schreibt Hitchens: „Das Judentum ist nicht nur eine weitere Religion, sondern auf seine Art die Wurzel des religiösen Übels.“ Es habe nämlich das Christentum und den Islam hervorgebracht. Dann wiederholt Hitchens lauter falsche Anschuldigungen über das religiöse Judentum: etwa die Lüge, es sei laut rabbinischem Religionsgesetz verboten, am Sabbat das Leben eines Nichtjuden zu retten.

Besonders fatal erscheint diese Form des Judenhasses, wenn man sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen führt. Der Kommunismus empfahl sich als fortschrittlich, aufgeklärt und religionsfeindlich; nachdem die Bolschewiki an die Macht gekommen waren, verwandelten sie erst einmal Kirchen und Synagogen in Lagerhallen und warfen Ikonen und Thorarollen auf den Schutt. Durch die Straßen der Städte zogen bolschewistische „Prozessionen“, die sich über die Religion lustig machten.

Am Anfang war der sowjetische Kommunismus nicht antisemitisch

Am Anfang war der sowjetische Kommunismus zwar nicht antisemitisch – die Juden wurden nicht schlechter behandelt als alle anderen auch -, aber spätestens nach 1948 verwandelte sich die Sowjetunion in ein extrem judenfeindliches Land. Stalin hatte kurz vor seinem Tod noch einen großen Pogrom geplant: Die jüdischen Bürger sollten in das autonome Gebiet Birobidschan deportiert, unterwegs sollte ein Drittel von ihnen erschlagen werden. In den Siebzigerjahren verbreiteten sich in der Sowjetunion antisemitische Hetzschriften, neben denen die „Protokolle der Weisen von Zion“ geradezu harmlos wirken. Und all dies im Namen einer wissenschaftlichen Weltanschauung.

Wie steht es mit den Nazis? Gewiss, auf den Koppelschlössern der SS stand „Gott mit uns“. Gewiss, unter den Mördern befanden sich jede Menge evangelische und katholische Christen. Gewiss, die Kirchen haben sich damals im Großen und Ganzen schändlich verhalten. Aber Hitler hielt privat das Juden- wie das Christentum für „denselben jüdischen Schwindel“. Nach dem Endsieg wollte er alle Gotteshäuser abreißen und an ihrer Stelle Sternwarten errichten. Seine Variante des Judenhasses bezeichnete er als den „Antisemitismus der Vernunft“. Auf seine Weise verstand sich auch der Nationalsozialismus als eine streng wissenschaftliche Weltanschauung: Die Lehre vom immerwährenden Kampf der Völker und Rassen sollte über die jüdische Ethik obsiegen, die sich, wie Hitler glaubte, auf nichts gründete.

Es gibt kluge und sehr nachdenkliche Atheisten

Sollen hier der Atheismus und die europäische Aufklärung in Bausch und Bogen verdammt werden? Überhaupt nicht, das wäre dumm und ungerecht. Es gibt kluge und übrigens auch sehr nachdenkliche Atheisten. Und gerade Gläubige haben eigentlich jeden Grund, für die Existenz von gottlosen Menschen dankbar zu sein. Schließlich hilft der Atheismus ihnen, im freundschaftlichen Streit ihre Argumente zu schärfen.

Es geht mir hier um etwas anderes: um so etwas wie Gerechtigkeit. Nach dem Völkermord an den europäischen Juden haben die christlichen Kirchen zumindest angefangen, ernsthaft in sich zu gehen. Mittlerweile wird eine tiefgründige Diskussion über judenfeindliche Stellen in den Evangelien geführt; viele gläubige Christen haben begriffen, dass sie die Bibel ohne jüdische Hilfe gar nicht recht lesen können. Papst Johannes Paul II. besuchte die römische Synagoge am Tiber und nannte die Juden „unsere älteren Brüder“. Im Islam steht eine solche selbstkritische Diskussion (wenn man von kostbaren vereinzelten Stimmen absieht) noch aus. Aber immerhin setzt sich in der Öffentlichkeit langsam die Einsicht durch, dass es im Islam ein Antisemitismusproblem gibt – und zwar ein gewaltiges.

Tradition der Aufklärung gilt immer noch als unschuldig

Die Tradition der Aufklärung dagegen gilt immer noch als weitgehend unschuldig – wie zuletzt etwa in der deutschen „Beschneidungsdebatte“ deutlich wurde (in der schrille judenfeindliche Töne gar nicht zu überhören waren). Die atheistischen – oder agnostischen – Kämpfer gegen den „finsteren mittelalterlichen Aberglauben“ werden von den meisten Leuten immer noch als Lichtgestalten betrachtet. Voltaire steht immer noch als Held auf dem Sockel. Seine antisemitischen und rassistischen Äußerungen gelten als Kavaliersdelikte; manche Leute wissen gar nichts von ihnen.

Der Antisemitismus ist aber mehr als ein moralisches, er ist auch ein intellektuelles Problem. Ein Denken, das vom Judenhass angefressen wurde, ist von innen her faul. Solange die Aufklärer, Fortschrittsfreunde und Gottesleugner sich also weigern, ihre eigene judenfeindliche Tradition in Augenschein zu nehmen, solange sie dieses Erbe wie bewusstlos immer weiter tragen, stimmt mit ihnen etwas ganz Grundsätzliches nicht. Sie sind dann zumindest in dieser Hinsicht nicht besser als fundamentalistische Muslime oder die reaktionären Katholiken von der „Piusbruderschaft“.

Solange die Aufklärer sich über ihren eigenen Antisemitismus nicht aufklären lassen wollen, sind sie als Gesprächspartner in der öffentlichen Debatte kaum ernst zu nehmen.

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