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23. August 2012

BR-Experte: „Behörden verschwenden ihre Energie gegen links“

Erschienen auf Bayerischer Rundfunk Online, 17.8.2012. Jedes halbe Jahr teilt der Verfassungsschutz in einem Bericht mit, wie es um die Sicherheit bestellt ist. Viele Zahlen, Gefahren und noch mehr Geheimnisse, die nicht an die Öffentlichkeit dringen. BR.de hat deshalb Thies Marsen, den Rechtsextremismus-Experten des Bayerischen Rundfunks, um eine Einschätzung gebeten.

BR.de: Herr Marsen, reden wir Tacheles: Wie gut hat Bayern das Problem mit dem Rechtsextremismus im Griff?

Thies Marsen: Überhaupt nicht. Es gibt regelmäßig Waffenfunde in der Szene, etwa in Neuburg an der Donau und in der Nähe von Rosenheim. In Bad Windsheim wollten Neonazis ein von Ausländern bewohntes Haus anzünden – der Aufschrei unter den Bürgern blieb aus. Und: Im Polizeibericht werden Neonazi-Taten oft als Auseinandersetzungen unter Jugendlichen oder Nachbarschaftsstreit verharmlost. Dabei ist in Bayern rechtsextreme Gewalt fast schon an der Tagesordnung, die Lokalzeitungen sind voll von Übergriffen auf Migranten, Punks, Gewerkschafter. Die Zwickauer Terrorzelle hat allein fünf Menschen in Bayern ermordet. Es fällt schwer zu glauben, dass sie das ohne Unterstützung vor Ort getan haben. Trotzdem gab es im direkten Zusammenhang mit den NSU-Morden bislang keinerlei Hausdurchsuchungen oder ähnliches in Bayern. Und das Freie Netz Süd, das derzeit aktivste Neonazi-Netzwerk in Bayern, darf weiter ungestört praktisch jedes Wochenende irgendwo Aufmärsche und Kundgebungen veranstalten.

BR.de: Warum greifen die Behörden denn nicht härter durch?

Thies Marsen: Die Sicherheitsbehörden verschwenden ihre Energie lieber gegen links. Kurz vor der Aufdeckung der NSU-Morde etwa hat sich Innenminister Herrmann praktisch ausschließlich der linksextremistischen Szene gewidmet. Bestes Beispiel ist der Umgang mit der Antifaschistischen Archivstelle a.i.d.a. in München, die als linksextremistisch denunziert wird. Dabei hat der Münchner Verein oftmals bessere Infos als der Verfassungsschutz und ist mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet worden. Selbst der KZ-Überlebende Ernst Grube, der seit Jahrzehnten in bayerischen Schulen über seine Erlebnisse berichtet, stand als angeblicher „Linksextremist“ im Verfassungsschutzbericht. Außerdem muss man leider sagen: Nirgends in Deutschland, auch nicht im Osten, sind etwa antisemitische Einstellungen so verankert, wie in der bayerischen Bevölkerung – das haben mehrere Studien gezeigt. Man müsste sich also auch inhaltlich stärker mit den Neonazis auseinandersetzen und dabei auch persönliche Sichtweise immer wieder infrage stellen. Sätze wie „die Juden beherrschen die Welt“, hört man immer wieder. Bei solchen Aussagen muss man Grenzen setzen und die Leute dafür sensibilisieren, was sie da eigentlich sagen.

BR.de: Das Problem ist auch, dass faschistisches Gedankengut hübsch bis raffiniert verpackt wird. Wenn Biobauern etwa gegen Gentechnik schimpfen, vermutet man erstmal nicht die rechte Szene dahinter.

Thies Marsen: Wir alle müssen mehr mitdenken und hinterfragen: Wer will was und vor allem: warum? Wieso poltert einer gegen die Banken oder gegen den Euro? Bei den Montagskundgebungen der Freien Wähler in München etwa sind regelmäßig Neonazis dabei, sogar verurteilte Rechtsterroristen. Neonazis agitieren auch gegen den Euro oder gegen Gentechnik oder gegen deutsche Soldaten im Ausland. Aber sie tun das stets auf Grundlage ihrer völkischen Ideologie, da geht es immer um Volksgemeinschaft, Rasse usw. Wenn Neonazis gegen Banken polemisieren, dann steht der Begriff Banken immer für „die Wall Street“, für die „Ostküste“ – und am Ende für  „die Juden“. Und davon muss man sich deutlich abgrenzen, auch sprachlich. Der Begriff der Heuschrecken etwa, der derzeit so inflationär gebraucht wird, ist ein Nazibegriff aus den 30er-Jahren.

BR.de: Was halten Sie von der Idee, die Abteilung für Verfassungsschutz im Innenministerium neu zu strukturieren?

Thies Marsen: Grundsätzlich ist es natürlich sinnvoll, wenn der Verfassungsschutz nun von einer eigenen Abteilung kontrolliert wird und nicht mehr gemeinsam mit der Feuerwehr und dem Katastrophenschutz verwaltet wird. Ich bezweifle allerdings, dass diese Maßnahme ausreicht. Und man muss leider sagen, dass der Verfassungsschutz und insbesondere seine regelmäßigen Berichte – und das gilt nicht nur für Bayern – ein politisches Instrument des Innenministeriums ist. Da wird Politik gemacht, da werden unliebsame zivile Organisationen teilweise aus dem demokratischen Konsens ausgeschlossen. Das Beispiel a.i.d.a. habe ich schon genannt, ein anderes ist die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die anders als in anderen Bundesländern in Bayern weiterhin als verfassungsfeindlich eingestuft wird. Interessant ist aber auch, wer nicht drinsteht in Bayern: Jahrelang zum Beispiel war keine einzige Burschenschaft erwähnt, obwohl es da in Bayern nicht nur eine gibt mit engen Verbindungen nach ganz rechts außen.

BR.de: Dann wäre also die Forderung der Grünen-Innenexpertin Susanna Tausendfreund zu befürworten, die eine grundlegende Reform des Verfassungsschutzes will?

Thies Marsen: Angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahre habe ich ernsthafte Zweifel an der Reformfähigkeit des Verfassungsschutzes. Manchmal fragt man sich wirklich, inwiefern es die Neonazi-Szene in dieser Form überhaupt geben würde ohne den Verfassungsschutz und seine staatlich alimentierten V-Leute. Das ist nicht nur in Thüringen so, wo V-Leute das Geld des Verfassungsschutzes nach eigenen Angaben nutzten, um Neonazistrukturen überhaupt erst aufzubauen. Ich befürchte, dass man nun sozusagen den Bock zum Gärtner macht: Ausgerechnet die Behörden, die mit verantwortlich sind dafür, dass die Neonazimörder des NSU nicht geschnappt wurden, werden nun auch noch gestärkt durch Umstrukturierungen und mehr Personal.

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