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30. Januar 2013

30. Januar 2013 – Zum 80. Jahrestag von Hitlers Machtantritt Charlotte Knobloch: „Das erträgliche Land“

Erschienen als Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 12.1.2013, S. 2. Anfang September 2012 habe ich an dieser Stelle gefragt: „Wollt ihr uns Juden noch?“ Von den Exzessen in der Beschneidungsdebatte irritiert, war mir unklar geworden, wo und woran wir sind – wir, die deutsche Gesellschaft im 21. Jahrhundert.DasEcho aufmeinen„Aufschrei“ war vielstimmig. Unter dem Strich aber spüre ich wieder den Willen zu hoffen. Kurz vor den 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz 1945 und vor dem 30. Januar, dem 80. Jahrestag von Adolf Hitlers Machtantritt im Jahr 1933, konstatiere ich: Deutschland ist in guter Verfassung.

Der 30. Januar 1933 gilt als ein, wenn nicht gar der Schicksalstag des 20. Jahrhunderts. Dabei schwingtimWort „Schicksal“ auch etwasBequemes,beruhigendUnschuldiges mit. Hitlers Wähler sind nicht mehr unter uns. Leicht ließe sich vergessen, dass der „Führer“ nicht vom Himmel fiel. Erwar gewollt! DieMehrheit der Deutschen spürte ein ausgeprägtes Unbehagen anderDemokratieundwar unfähig, die politische Freiheit wertzuschätzen. Die Gemengelage, die 1933 zu der raschen, massenhaften Hinwendung zu Hitler führte, bezeichnet der Historiker Norbert Frei als „Selbstverwandlungsprozess der deutschen Gesellschaft“.

Am 27. Januar 1945 geschah der andere Paradigmenwechsel in der deutschen Geschichte. DieBefreiung vonAuschwitz hatte der Welt den Sündenfall des Jahrhunderts offenbart – vollstreckt in deutschem Namen. Ich glaube nicht, dass es eine Erbsünde gibt. Kein Kind kommt mit Schuld beladen auf die Welt. Das Erbe der deutschen Vergangenheit ist nicht kollektive Schuld, sondern eine besondere Verantwortung zu menschlichem Denken und Handeln. Die Diskussion im vergangenen Sommer hatte meinen Glauben an diese Vernunft erschüttert undmeine Furcht vor einem erneuten Verwandlungsprozess der Deutschen geweckt.

Seitens derPolitik–von den Spitzen der Verfassungsorgane bis in die Kreisverbände – erfuhr die jüdische Gemeinschaft enormen Zuspruch, nachdem mein Beitrag erschienenwar. Das schnelle und entschlossene Agieren der politischen Klasse war für die jüdischenMenschen sehr wichtig. Ein Schock hingegen war das, was ich als Stimmungslage in der Bürgerschaft wahrgenommen habe.

Unbestritten: Eine liberale Demokratie lebt von offenem Dialog. Tabus helfen niemandem. Das Fehlen von Grenzen jedoch ist allerdings ein Seismograf für den Zustand der Gesellschaft. Echte Wertschätzung wurzelt in Respekt, Akzeptanz und Anerkennung. Die Art derAuseinandersetzungumdie Beschneidung jüdischer Knaben schien zu belegen, dass die nach 1945 selbst auferlegte Versagung antisemitischer Äußerungen der Gewöhnung daran gewichen ist. Es war wieder möglich, Juden als andersartig und als fremd an den gesellschaftlichen Rand zu drängen – als jenseits der Rechtsordnung stehend, jenseits der Humanität.

Die Wucht der Anfeindungen, die Nonchalance, der ungenierte Rückgriff auf antisemitische Ressentiments und judenfeindliche Argumentationsmuster haben Wunden aufgerissen. Seit der Beschneidungsdebatte gilt: Wer offen und enthemmt gegen Juden poltern will, braucht das Vehikel Israel nicht mehr. Und: Neben den üblichen Verdächtigen, die reflexartig auf der Bildfläche erscheinen, gibt es erschreckend vielemehr oderwenigerGebildete, die darauf gewartet haben, sich aus derDeckungpolitischerKorrektheit zuwagen. Bildungsbürger und Prekariat, rechts und links, all das verschwimmt in der modernen Debatten(un)kultur imSchwarm – einem Schwarm, der sich multipliziert über unzählige digitale Kommunikationskanäle. Er hilft der Minderheit der Obsessiven, sich extrem schnell und laut zu exponieren. Die Aufgeregten suchen und finden einen Anlass zurPanik. In ihrer Aufgeregtheitvermitteln sie den Eindruck gesellschaftlicher Meinungsdominanz; ihre Lautstärke suggeriert Massenhaftigkeit.

In Wahrheit – so meine Wahrnehmung der vergangenenWochen– repräsentieren die öffentlich wahrnehmbaren Erregungsphänomenen nicht die Haltung der Mehrheit. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zum Mainstream anno 1933. Die Lauten und Aggressiven, die Ausländerfeinde und Judenhasser sind in der Unterzahl. Sie verstehen es nur gut, dieneuenexhibitionistischen Möglichkeiten für ihren Narzissmus zu missbrauchen. Sie nutzen dieGelegenheit des vorgeheucheltenTabubruchs, umsich zu profilieren. Gerne wird dasvermeintlichvornehmeGewandder Intellektualität übergestreift, auch mal die Versform gewählt, ohne dass dadurch die Polemik, die Aggressivität geringer würde. Man landet auf schwarzen Listen oder verschwindet von grünen.

Twitter, Facebook, Youtube und Co. sind Katalysatoren der Informationsgesellschaft, sie tragen aber auch erheblich zur Ver-Spamung unserer Kultur bei. Doch was sollte da helfen außer Gelassenheit? Die Erregten mögen sich mutig vorkommen. In Wahrheit aber erliegen sie ihrer unheilbaren Angst vor der Bedeutungslosigkeit, der Höchststrafe in der Mediengesellschaft. Sie sind moderne Loser, die um jeden Preis Aufmerksamkeit erhaschenwollen. Vielleicht gewinnen sie ein paar Anhänger – aber, anders als 1933, Gott sei Dank keine Mehrheiten. Sie sind schädlich für das Miteinander, aber sie sind nicht vernichtend. Wir sollten die Ungeister unserer politischen Kultur, die Kolumnen-Brandstifter, Hass-KommentatorenundTalkshow-Aufrührer, als Elementeder Demokratie imdigitalen Zeitalter ertragen.

Ich habe in den vergangenen vier Monaten die Gewissheit gewonnen, dass sich die Mehrheit in Deutschland für die Vernunft entschieden hat, und, noch wichtiger, für dieVerantwortung als Lektion aus der Geschichte. Die Mehrheit in diesem Land kommt ohne Feindbilder aus. Sie muss niemanden abwerten, um sich selbst aufzuwerten. Sie braucht keine Angst- undWutgebilde, auf dass die eigene Besserwisserei in hellerem Glanz erstrahle. Die Mehrheit hat verstanden, dass leichter lebt, wer leben lässt. Sie entsagt der Eitelkeit, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben und andere belehren zu müssen. Sie enttarnt die wahre Dummheit: die Intoleranz.

Im Januar 1933 war Deutschland eine Demokratie ohne Demokraten. Im politischen System von heute bejaht und lebt eine klare Mehrheit der Menschen die Demokratie, den Rechtsstaat, die unantastbare Menschenwürde. Ausdruck ist gegenseitiges Verständnis, Empathie und die Bereitschaft,  allen Unterschieden zum Trotz miteinander als ein Gemeinwesen zu leben. Weil es das alles gibt, den Hasspredigern zum Trotz, lässt es sich leben in Deutschland. Ich fühle mich gewollt in diesem Land.

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