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21. Oktober 2012

Abgetaucht: „Rechtsextremisten zeigen Gefährdung des Staates“

Mehr als 100 Neonazis leben im Untergrund, sagt der Innenminister der Welt am Sonntag. Aufgeschreckt durch die hohe Zahl, fordern Politiker Konsequenzen – etwa eine Reform des Geheimdienstes. Von Thorsten Jungholt und Martin Lutz, erschienen auf Die Welt Online, 21.10.2012.

Ein Jahr ist es mittlerweile her, dass der Terror des rechtsextremistischen Trios „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) enttarnt wurde. Der Fall erschütterte die Republik: Erst nach der Selbsttötung der beiden mutmaßlichen Haupttäter war damals eine Mordserie an zehn Menschen in den Jahren 2000 bis 2007 bekannt geworden.

Die Ereignisse sind weit davon entfernt, als aufgearbeitet gelten zu können. Wieso konnten die drei Zwickauer so lange unbehelligt im Untergrund leben und morden? Wie konnten die Sicherheitsbehörden so versagen? Und seit diesem Sonntag stellt sich eine weitere Frage: Wie kann es sein, dass es noch immer Rechtsextremisten gibt, die im Untergrund ihr Unwesen treiben?

Im Gespräch mit der „Welt am Sonntag gestand Innenminister Hans-Peter Friedrich, dass den Ermittlungsbehörden von mehr als 100 deutschen Rechtsextremisten jede Spur fehle. „Das Bundeskriminalamt geht von 110 mit offenen Haftbefehlen untergetauchten Rechtsextremisten aus“, so der CSU-Politiker. Das sei der Stand von Mitte September. Diese Zahl könne sich mittlerweile durch Verhaftungen oder neu hinzugekommene Haftbefehle verändert haben, so der Minister, ein ständig aktuelles Lagebild gebe es nicht. Nach Informationen der „Welt am Sonntag“ gingen die Sicherheitsbehörden im November 2011 noch von 140 bis 150 abgetauchten Neonazis aus.

Friedrich hielte Umbau für „Aktionismus“

Für die Justizministerin ist die Vielzahl der im Untergrund lebenden Neonazis ein weiterer Grund, eine umfassende Neuordnung des Inlandsgeheimdienstes zu fordern. „Die große Zahl der gesuchten Rechtsextremen und die Schwächen, die bei der Arbeit der Sicherheitsbehörden offenbar geworden sind, zeigen wie dringend eine Reform vorrangig der Verfassungsschutzbehörden ist“, sagte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) der „Welt“.

Die Arbeit der von Bund und Ländern eingesetzten parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zeige nämlich, „dass es keinen Mangel an Information gibt. Alle rechtlichen Grundlagen für den Austausch der Informationen in rechtsstaatlicher Weise sind mittlerweile mit dem Terrorabwehrzentrum und der Rechtsextremismusdatei vorhanden“, findet die Ministerin. In einer weiteren Kommission, die Ende des Monats ihre Arbeit aufnehmen und die Struktur der gesamten deutschen Sicherheitsarchitektur überprüfen soll, will sie deshalb auf einen Umbau des Inlandsgeheimdienstes dringen.

Friedrich allerdings lehnt das ab. Die Demokratie brauche einen „starken Verfassungsschutz“, sagte er der „Welt am Sonntag“. Derzeit gibt es 16 Landesämter und ein Bundesamt, und der Innenminister will es dabei belassen. „Weder der Umzug des Bundesamtes für Verfassungsschutz nach Berlin wäre ein Reformschritt, noch die Fusion zu einer Mammutbehörde. Dies alles wäre Aktionismus und keine Reform“, sagte Friedrich.

Sein Ansatz heiße „maximale Kommunikation der Behörden vor Ort und der Zentralstelle.“ Dazu gehöre außerdem bestmögliche Kommunikation zwischen der Kriminalpolizei und den Nachrichtendiensten. „Dafür haben wir jetzt das Gemeinsame Abwehrzentrum Rechtsextremismus. Hier tauschen sich die Vertreter aller Sicherheitsbehörden täglich aus und werden durch eine neu geschaffene elektronische Rechtsextremismusdatei unterstützt. Bund und Länder haben beschlossen, die Zentralstellenfunktion des Bundesverfassungsschutzes zu stärken – auch daran arbeiten wir“, so Friedrich.

Um bessere Kommunikation geht es Leutheusser-Schnarrenberger auch – allerdings hält die Liberale dafür eine Reduzierung der Behörden des Inlandsgeheimdienstes für hilfreich. Ein Jahr nach Aufdeckung des NSU-Terrors bleibt also festzuhalten: Die beiden Verfassungsminister streiten weiter über die Zukunft der Verfassungsschützer.

„Wir müssen ihnen permanent auf den Füßen stehen“

Bernhard Witthaut, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, hält diese Strukturdebatte für schädlich. „Die erschreckend hohe Zahl der Rechtsextremisten zeigt die Gefährdung unseres Staates. Denn jeder von denen ist bereit, mit seinen Unterstützern jederzeit rechtsmotivierte Straftaten zu begehen und Anschläge zu verüben“, sagte Witthaut der „Welt“.

„Deshalb müssen wir ihnen permanent auf den Füßen stehen, Strategien entwickeln, Erfahrungswissen aufbauen und mit einer Ermittlungsruhe agieren können – und nicht von der Politik hin und her getrieben werden.“ Vor allem „die unsägliche Debatte um die Auflösung des Verfassungsschutzes“ müsse endlich beendet werden: „Denn im Falle eines Anschlages sagen die gleichen Politiker: Warum habt ihr das nicht verhindert?“

Allerdings sieht nicht nur die Justizministerin Änderungsbedarf. Für Grünen-Chef Cem Özdemir beispielsweise ist die hohe Zahl von abgetauchten Rechtsextremisten ein Beleg dafür, „wie wenig die Sicherheitsbehörden offenbar seit dem NSU-Skandal dazugelernt haben“. Es sei ungeheuerlich, dass über 100 Neonazis noch immer im Untergrund leben und unbehelligt ähnliche Gewalttaten planen könnten.

„Wie Friedrich, wenn er solche Zahlen präsentiert, glauben kann, beim NSU handle es sich um einen Einzelfall, der sich so nicht wiederholen könne, ist mir ein Rätsel“, sagte Özdemir der „Welt am Sonntag“.

Der Innenminister hatte betont, er glaube nicht an eine Wiederholung der NSU-Taten: „Nachahmer, die wahllos Leute erschießen und davon nichts verlautbaren, erwarte ich nicht. Aber dass es im rechtsextremistischen Milieu immer wieder fließende Übergänge zu terroristischen Strömungen geben kann, halte ich für möglich.“

„Davon ausgehen, dass sie über Waffen verfügen“

Sebastian Edathy (SPD), der den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags leitet, warnte dagegen ebenfalls , „dass man die Zwickauer Terrorzelle nicht als isoliertes Phänomen betrachten darf. Wir haben noch mehrere tickende Zeitbomben im Land herumlaufen“.

Um die tatsächliche Gefahr, die von dem Personenkreis im Untergrund ausgeht, sachgerecht beurteilen zu können, verlangte der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU), weitere Informationen von den Behörden. Es stellten sich gleich mehrere Fragen: „Welche sicherheitsrelevanten Erkenntnisse gibt es über sie? Welche Taten werden ihnen zur Last gelegt? Seit wann sind sie untergetaucht, und was wurde unternommen, um sie zu ergreifen?“

Annetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, hält diese Gefahr für erheblich. Die Zahl von 110 sei als Indiz für das logistische und militante Potenzial der Nazi-Szene erschreckend genug. Darüber hinaus sei aber zu vermuten, „dass dies nur die bisher bekannten Fälle sind“, es also eine Dunkelziffer in unbekannter Höhe gibt.

Nach den Erfahrungen der Stiftung, die sich dem Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus verschrieben hat, müsse man davon ausgehen, „dass die militanten Rechtsextremisten, ob nun abgetaucht oder nicht, über Waffen verfügen und jederzeit davon Gebrauch machen können“.

Was die Reform des Inlandsgeheimdienstes angeht, steht Kahane an der Seite der Justizministerin. „Der Verfassungsschutz in seinem jetzigen Zustand“, sagt sie, „kann nicht mehr mit der Entwicklung Schritt halten“.

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