Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern

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31. August 2012

Angriff auf Rabbiner: „In meinen Grundfesten bin ich nicht erschüttert“

Der Angriff auf einen Rabbiner in Berlin zeigt: Der Antisemitismus unter Muslimen nimmt zu. Besonders bei jungen Migranten

Von Freia Peters, erschienen auf Welt Online, 31.8.2012. Kurz nachdem Daniel Alter vor sechs Jahren als einer der ersten Juden in Deutschland nach dem Holocaust zum Rabbiner ernannt worden war, sagte er, dass er lange überlegt habe, wie er seiner Tochter erklären solle, warum Juden in Deutschland nicht alltäglich seien. „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie“, sagte er der Welt. Seine Tochter war damals noch ein Baby. Am Dienstagabend, 29.8.2012, war sie dabei, als vier mutmaßlich arabische Jugendliche im Berliner Stadtteil Schöneberg Alter fragten: „Bist du Jude?“, ihn beleidigten und zusammenschlugen, als er bejahte. „Ich bring dich um!“, sagte einer der Täter zu der heute Siebenjährigen. Alter erlitt einen Jochbeinbruch und wurde am Donnerstag, 30.8.2012 operiert.

Der Welt sagte Alter nun, der Vorfall werde ihn nicht daran hindern, sich weiterhin für den interreligiösen Dialog zu engagieren. „In meinen Grundfesten bin ich nicht erschüttert.“ Ein dumpfer Schläger werde ihn nicht von seinem Weg abbringen. „Viele Menschen äußern ihre Anteilnahme, wünschen mir gute Besserung und sagen mir, wie sehr sie diese Tat verurteilen.“ In der Vergangenheit sei er öfter angepöbelt worden. „Wie aggressiv das im Einzelfall wirklich gewesen ist, habe ich gar nicht wahrhaben wollen.“

Das Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg, an dem Alter jüdische Lehre studiert hatte, bekommt mehr Polizeischutz. Den Studierenden rate man davon ab, auf der Straße Kippa zu tragen, sagte Rektor Walter Homolka der „Welt“. „Bislang hatte ich die Illusion, dass es in Berlin und Brandenburg möglich sein müsste, sich jederzeit und überall zu seinem jüdischen Glauben zu bekennen.“ In Deutschland habe es bisher nur vereinzelt Angriffe arabischer Migranten gegen Juden gegeben. Der Vorfall sei „ein echtes Schockerlebnis“. Polizei und Staatsschutz müssten gewaltbereite Muslime in den Griff bekommen. Homolka: „Es wäre fatal, wenn wir auf deutschen Straßen einen Stellvertreterkrieg des Nahen Ostens bekommen würden.“

Zunehmende Gewalt gegen Juden

Die Amadeu-Antonio-Stiftung warnt seit Längerem vor zunehmender Gewalt gegen Juden. „Es gibt in letzter Zeit mehr körperliche Attacken als in den vergangenen Jahren – vor allem in Großstädten“, sagte die Vorsitzende Anetta Kahane. „Leider sind es meist junge Migranten.“ Nach ihrer Ansicht ist die Stimmung des Antisemitismus in Deutschland derzeit recht aggressiv. Junge Migranten seien bisweilen hasserfüllt auf die Gesellschaft, Deutschland und Juden. „Ihr Weltbild ist sehr antisemitisch geprägt“, sagte Kahane. Oft hätten sie den Eindruck, dass ihre Umwelt das gar nicht so anders sehe. „Sie fühlen sich durch das, was die Mehrheitsgesellschaft denkt, nicht gerade entmutigt.“ Vor allem der Nahost-Konflikt trage zur Ideologisierung bei: „Viele arabische Jugendliche sehen sich als Opfer Israels.“

Ursprung des Antisemitismus in den arabischen Ländern

Auch das Deutsch-Arabische Zentrum sieht den Ursprung des Antisemitismus in den arabischen Ländern. „Die Eltern verfolgen tagtäglich den Konflikt in ihrer Heimat, auch wenn sie hier in Deutschland leben“, sagte Zentrumsleiter Ali Maarous. Sie seien wütend über das, was in ihrer Heimat geschehe. „Diese Wut und der Hass überträgt sich dann auf die Kinder.“

Bundesweit für Schlagzeilen sorgte im Juni 2010 ein Vorfall in Hannover: Eine Gruppe arabischer Kinder hatte auf einem Straßenfest eine israelische Tanzgruppe mit Kieselsteinen attackiert. Woher kommt dieser Hass? Islamwissenschaftler verweisen auf den Ausbau des Satellitenfernsehens, durch das arabische Programme zunehmend oft auch in Europa preiswert zu haben sind. So schauen muslimische Jugendliche in deutschen Wohnzimmern etwa die iranische Serie „Sarahs blaue Augen“, die im Gazastreifen spielt und in der Israelis Handel mit Organen von Palästinenserkindern betreiben. „Du Jude“ ist auf deutschen Schulhöfen längst ein gängiges Schimpfwort.

Daniel Alter hoffte einst, seine Ordination sei ein Zeichen einer Normalisierung jüdischen Lebens in Deutschland. Doch oft empfand er den Umgang mit ihm als verkrampft. „Bist du Jude?“, fragten ihn etwa Tramper. „Das Wort ‚Jude‘ bekommen sie meist nur flüsternd über die Lippen. Da schwingt Unsicherheit mit, ob das jetzt ein Schimpfwort ist“, sagte Alter kurz nach seiner Ordination. Schon damals gab es Pöbeleien vor dem Kindergarten seiner älteren Tochter. Einen Teil seiner Ausbildung hatte Alter in Jerusalem absolviert. „Da waren auf einmal alle so wie ich.“ In Deutschland dagegen werde er manchmal angestarrt, daher trage er über seiner Kippa meist Mütze oder Hut. Offensichtlich hatte Alter sich dies zuletzt abgewöhnt.

Knobloch verurteilt Überfall auf Rabbiner

IKG, 29.8.2012. „Dieser brutale Übergriff ist entsetzlich. Der offen gezeigte Hass der Täter schockiert mich und erfüllt mich mit großer Sorge. Nach dem schrecklichen Anschlag in Toulouse zeigt nun spätestens dieser Angriff: Auch in Deutschland ist nicht nur der verbale sondern auch der gewaltsame Antisemitismus wieder ein ernstes gesellschaftliches Problem.“

Mit diesen Worten hat Dr. h.c. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses (WJC) auf die Meldung reagiert, wonach in Berlin ein Rabbiner auf offener Straße und vor den Augen seiner kleinen Tochter von Jugendlichen verprügelt und beleidigt worden ist.

Knobloch weiter: „Die ausgeprägte Menschenverachtung der jungen Täter, die sich in diesem Vorgehen offenbart, ist alarmierend. Hier herrscht dringender Handlungsbedarf seitens der Politik und des Bildungssystems. Mein tiefes Mitgefühl gilt dem Opfer, seiner Familie und der jüdischen Gemeinschaft in Berlin. Ich hoffe, dass sich der Rabbiner bald von seinen körperlichen Verletzungen erholen wird. Die seelischen Wunden einer solchen Tat werden wohl bleiben.“

Der alltägliche Judenhass auf Deutschlands Straßen

Von Jens Anker und Lina Y. Liu, erschienen auf Welt Online, 30.8.2012. Die brutale Attacke auf einen Berliner Rabbiner hat die Jüdische Gemeinde der Stadt nicht überrascht. Antisemitismus nehme seit längerem zu. Besonders bei Türken und Arabern sei er verbreitet.

Muslimische Vereine und Verbände haben am Mittwoch, 29.8.2012, den Überfall auf einen Berliner Rabbiner verurteilt. „Im Namen der 17 arabischen Vereine, die dem Zentrum angehören, verurteile ich den Vorfall“, sagt der Chef des Deutsch-Arabischen Zentrums, Ali Maarous.

„Unsere Aufgabe ist es, Muslime und Juden näher zu bringen.“ Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland verurteilte die Attacke scharf. „Sie ist umso schlimmer, als dass sich das Opfer für den interreligiösen Dialog einsetzt“, sagte Vorstandssprecher Serdar Yazar. Er sieht ein Manko im gesellschaftlichen Klima der Stadt. „Die Fälle häufen sich, die Hemmschwelle für Gewalt sinkt. Das ist meine Wahrnehmung, aber ich hoffe, sie stimmt nicht.“

Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, habe am Mittwoch den Generalsekretär des Zentralrates der Juden, Stephan Kramer, angerufen und sein Bedauern und seine Solidarität erklärt.

„Jugendliche vermutlich arabischer Herkunft“, so die Polizei, hatten am Dienstag in Schöneberg einen Rabbiner der Jüdischen Gemeinde vor den Augen seiner Tochter zusammengeschlagen.

„Bist Du Jude?“

Der 53-jährige Daniel A. war am Dienstagabend mit dem sechsjährigen Mädchen in Schöneberg unterwegs, als die vier Jugendlichen den Mann nach Polizeiangaben fragten, „bist Du Jude?“ und ihn danach angriffen. „Es folgten Beleidigungen gegen den Mann, seinen Glauben und seine Mutter und eine Tötungsdrohung in Richtung seiner Tochter“, so ein Polizeisprecher. Die Täter flohen nach der Attacke in Richtung Rubensstraße. Der Staatsschutz hat die Ermittlungen aufgenommen.

Für die Jüdische Gemeinde in Berlin kam der Überfall nicht überraschend. „Gemeindemitglieder spüren seit Längerem eine Zunahme des verbalen Antisemitismus“, sagte der Gemeindevorsitzende Gideon Joffe am Mittwoch. „Es war für uns daher nur eine Frage der Zeit, bis Worten auch konkrete Taten folgen würden. Wir hoffen, dass hier nicht eine Atmosphäre wie in Schweden, Frankreich oder Holland entsteht, wo Angriffe auf Juden quasi zur Tagesordnung gehören.“

Einen 53 Jahre alten Familienvater in Begleitung seiner kleinen Tochter zusammenschlagen, sei nur möglich, wenn man diesen Menschen nicht als Menschen sehe. Berlins Integrationssenatorin, Dilek Kolat (SPD), zeigte sich am Mittwoch entsetzt über die Tat und kündigte Konsequenzen an.

„Ich bin erschüttert, dass so etwas möglich ist“, sagte Kolat. „Wir müssen Antisemitismus entschieden entgegen treten, egal, wo er auftaucht.“ Sie werde die islamischen Verbände um Mithilfe bitten, um mögliche antisemitische Strömungen in der muslimischen Gemeinde zu bekämpfen.

Antisemitismus bei Türken und Arabern

Erst am 7. August hatte ein Betrunkener in Friedrichshain ein Ehepaar antisemitisch beleidigt und bedroht. Vor einem Jahr wurde in Prenzlauer Berg ein 13-Jähriger geschlagen, weil er eine Kippa auf dem Kopf trug. Vor einigen Jahren attackierten arabischstämmige Jugendliche an der Fasanenstraße in Charlottenburg orthodoxe Juden.

Bereits vor zwei Jahren hatte die Jüdische Gemeinde auf einen gestiegenen Antisemitismus besonders unter jungen Türken und Arabern hingewiesen. Die Amadeu-Antonio-Stiftung bezeichnet Antisemitismus in „großen urbanen Wohnquartieren mit überwiegend muslimischer Wohnbevölkerung“ schon länger als ein ernstes Problem.

Das Deutsch-Arabische Zentrum sieht den Ursprung des Antisemitismus in den arabischen Ländern, aus denen die Mitglieder der arabischen Gemeinde kommen. „Die Eltern verfolgen tagtäglich den Konflikt in ihrer Heimat, auch wenn sie hier in Deutschland leben“, sagte Zentrumschef Ali Maarous. Sie seien wütend über das, was in ihrer Heimat geschehe.

„Diese Wut und der Hass überträgt sich dann auf die Kinder“, sagte Maarous. Das Zentrum arbeite daran, die Jugendlichen aufzuklären. In zahlreichen Seminaren erklärten sie den Jugendlichen, sich bei politischen Auseinandersetzungen zurückzuhalten und rational damit umzugehen.

Entsetzt über den Übergriff zeigte sich auch der Berliner Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki. Er sicherte dem Opfer und dessen Familie seine Anteilnahme zu. „Wer Menschen schlägt, verletzt und einschüchtert, kann sich damit nicht auf Gott berufen“, sagte er.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, sprach von einem „bösartigen Angriff auf das Judentum in Deutschland“. Gegenüber der „Jüdischen Allgemeinen“ betonte Graumann, er habe aber volles Vertrauen in die Behörden, dass die Täter schnell gefasst und zur Verantwortung gezogen würden.

Der Fraktionschef der SPD im Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, verurteilte den Überfall als „Angriff auf die ganze Stadt“. Die Polizei müsse alles daran setzen, die Täter zu überführen.

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