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22. August 2012

Rückkehr der Pogrome – als Rostock 1992 brannte

1998 kam es vor der Asylbewerber-Zentralstelle in Mecklenburg-Vorpommern zu den schwersten fremdenfeindlichen Übergriffen der bundesdeutschen Geschichte. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten. Von Sven Felix Kellerhoff und Laura Berlin, erschienen auf Welt Online.
Das Kampfgebiet liegt westlich von S-Bahn-Trasse und Schnellstraße. Zehn und mehr Geschosse ragen hier die Plattenbauten in der Rostocker Vorstadt Lichtenhagen empor. Zwischen den trostlosen, teilweise schon heruntergekommenen Hochhäusern aus DDR-Zeiten gähnt im Jahr zwei der Deutschen Einheit noch weitgehend Leere.

Ende August 1992 kommt es hier zu den schlimmsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen, die es seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland gegeben hat: Hunderte Gewalttäter zwingen die Polizei zeitweise zum Rückzug, und Tausende ganz normale Bürger klatschen Beifall, als das Gewaltmonopol des Staates vor ihren Augen zerbröselt. Rechtsextremisten nutzen die „günstige Gelegenheit“, ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Nach fünf Tagen endlich erzwingen massiv verstärkte Sicherheitskräfte ein Ende der Krawalle, doch der Schaden ist gewaltig. Vor allem die Bilder von einem aufgeputschten Mob bei regelrechten Menschenjagden graben sich ins kollektive Bewusstsein ein.

Es ist eine Katastrophe mit Ansage: Seit Wochen schon spitzen sich die Konflikte im Viertel zu. In Lichtenhagen liegt die Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern, und seit Ende der Achtzigerjahre hat sich ihre Zahl deutschlandweit vervierfacht: Statt rund 100.000 Asylbewerbern in der „alten“ Bundesrepublik 1988 prognostizieren die Behörden für 1992 mehr als 400.000 in Gesamtdeutschland.

Fehler der örtlichen Behörden

Gleichzeitig spüren die Einwohner von Lichtenhagen mit voller Wucht ganz persönliche Folgen der Deutschen Einheit: Viele haben in den vorangegangenen Monaten ihre Arbeit verloren, die meisten übrigen müssen um ihren Arbeitsplatz fürchten. Und nur wenige kommen schon klar in der neuen, freien Gesellschaft, die dem Einzelnen viel Freiraum lässt, ihm aber gleichzeitig Verantwortung für sein Handeln auferlegt.

Diese ohnehin schon angespannte Situation verschärft sich durch Fehler der örtlichen Behörden und Kompetenzgerangel. In der Hoffnung auf ein künftiges Leben in Sicherheit campieren seit dem Frühjahr Scharen von Flüchtlingen vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Rumänien auf der Wiese um das Haus in der Mecklenburger Allee 18. Wegen seines auffälligen Mosaiks heißt es im Volksmund einfach nur das „Sonnenblumenhaus“. Obwohl immer mehr Menschen hier ankommen, kümmert sich niemand um sie.

Die Lage ist verheerend. Viele Asylbewerber finden keine Unterkunft, sondern müssen in der Nacht Schutz suchen unter den Balkonen des ersten Stocks. Wenn sie Glück haben, finden sie zerfetzte Schaumstoffmatratzen zum Schlafen. Es mangelt an sanitären Anlagen; die Stadt weigert sich, mobile Toiletten aufzustellen, um den Ausnahmezustand nicht zu verstetigen. Müllberge häufen sich an. In der Umgebung stinkt es unerträglich.

Aus Empörung wird Pogromstimmung

Der Geruch zieht beim Lüften in die Wohnungen von zunehmend wütenden Anwohnern. Sie zeigen kein Mitleid mit den Flüchtlingen, sondern machen sie im Gegenteil und völlig zu Unrecht verantwortlich für die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands – einschließlich ihrer ganz persönlichen Sorgen. Als die Stadt und die Landesregierung es Mitte August 1992 ablehnen, Ausweichquartiere für die Asylbewerber zu schaffen, kippt die Situation: Aus Empörung wird Pogromstimmung.

Welche Rolle Neonazis dabei spielen, bleibt allerdings unklar. Einige Vertreter rechtsextremer Parteien wie der NPD oder der „Deutschen Volksunion“ verteilen in Lichtenhagen Flugblätter und hetzen gegen die Flüchtlinge. Anonyme Drohungen erreichen die Öffentlichkeit. In Lichtenhagen werde „bald aufgeräumt“ und für „Ordnung gesorgt“. Sogar schwerste Verbrechen werden angekündigt: Man werde Roma „aufklatschen“, zitiert die örtliche Zeitung einige Jugendliche.

Doch sind es wirklich solche Parolen, die für die anschließende Eskalation sorgen? Lassen sich also ganz normale, tief verunsicherte Kleinbürger verführen? Oder, noch schlimmer: Steckt der mörderische Hass in ihnen selbst? Braucht es gar kein Aufputschen durch auswärtigen Ideologen, sondern nur eine Gelegenheit? Das sind die Fragen, die von Rostock-Lichtenhagen bleiben werden.

Die Polizei ist völlig überrascht

Der 22. August 1992 ist ein mäßig warmer Samstag. Der Himmel ist bewölkt. Am frühen Abend haben sich rund 2000 Menschen, überwiegend Anwohner, vor dem Sonnenblumenhaus versammelt. Als es gegen 20 Uhr dunkel wird, beginnen Jugendliche, herumliegende Betonplatten zu zertrümmern und mit den Bruchstücken auf die Asylbewerber-Stelle zu werfen. Fenster gehen zu Bruch, teilweise bis in den sechsten Stock. Die Flüchtlinge im Inneren des Gebäudes haben Angst: Sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Von draußen hören sie, wie Schaulustige ausländerfeindliche Parolen skandieren und so die brutalen Randalierer unterstützen.

Obwohl es genügend Warnsignale gegeben hat, dass an diesem Abend eine Eskalation bevorstehen könnte, ist die Polizei völlig überrascht. Gerade einmal 30 Beamte in normaler Streifenuniform kommen bald nach den ersten Angriffen nach Lichtenhagen, und sie werden rücksichtslos attackiert, zusammengeschlagen, viele verletzt. Die Polizisten müssen sich selber schützen und können ihre eigentliche Aufgabe nicht erfüllen, die Ausschreitungen zu unterbinden.

Den ganzen Abend über gibt es nur schwache Verstärkungen, und erst deutlich nach Mitternacht treffen Wasserwerfer aus der Landeshauptstadt Schwerin ein. Gegen fünf Uhr morgens endlich ziehen sich die Angreifer ermüdet zurück – aber nur, um einige Stunden später erneut zuzuschlagen.

Verstärkung aus umliegenden Städten

Gegen Mittag des 23. August 1992 rottet sich erneut eine gewaltbereite Meute vor dem Plattenbau zusammen. Der Polizei-Einsatzleiter fordert verzweifelt Verstärkung aus umliegenden Städten an, während der Mob die Möglichkeit nutzt, allen Ressentiments freien Lauf zu lassen. Dutzende Journalisten, Kameraleute und Fotografen sind inzwischen nach Lichtenhagen gekommen.

Sie filmen und fotografieren Szenen, wie es sie in der Bundesrepublik in diesem Ausmaß noch nie gegeben hat: Jugendliche attackieren den Tag über, vor allem aber abends das Sonnenblumenhaus. Demonstranten und Schaulustige schützen die Gewalttäter vor der Polizei, obwohl die Angreifer auch die Beamten mit Molotowcocktails, Steinen und Glasflaschen bewerfen.

Dieses Benehmen erschreckt Fernsehzuschauer in Deutschland und bald auch in vielen anderen Ländern. Schnell sind Vergleiche mit den Ereignissen der „Reichskristallnacht“ 1938 im Umlauf – das ist zwar übertrieben, weil die Polizei die Gewalttäter eben nicht unterstützt, sondern „nur“ einigermaßen hilflos die Krawalle einzudämmen versucht. Andererseits kommen jetzt reihenweise prominente Rechtsextremisten nach Rostock, deren politische Ziele ganz eindeutig sind. Die meisten allerdings beteiligen sich nicht direkt an den Übergriffen – das überlassen sie aufgeputschten, oft betrunkenen Jugendlichen.

Randalierer feiern einen Sieg

Nach der zweiten Krawallnacht in Folge mit Dutzenden verletzten Polizisten entschließt sich das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern, die Lage zu „entspannen“. Dafür soll die Zentrale Asylbewerberstelle geräumt werden, bis Montag, den 24. August 1992 um 15 Uhr. In Schwerin rechnet man damit, so den Anlass für die Ausschreitungen zu beseitigen. Doch in Wirklichkeit sehen die Gewalttäter im Zurückweichen des Staates einen Sieg. Was deeskalieren sollte, führt stattdessen zu einer weiteren Eskalation.

Durch Missverständnisse ziehen nämlich die Polizeiverstärkungen aus Hamburg ab, ohne dass Ersatzkräfte kommen. Die zurück gebliebenen Beamten sind vollkommen damit beschäftigt, sich der Angreifer zu erwehren. Ab dem frühen Abend des 24. August 1992 sind das nun leere Asylbewerberheim, vor allem aber das benachbarte Wohnheim für vietnamesische Gastarbeiter ohne ausreichenden Schutz.

Bald nach 21 Uhr stürmen Randalierer die unteren Stockwerke des Plattenbaus, in dessen oberen Geschossen rund 120 Vietnamesen und Deutsche sich verbarrikadieren. Mit Molotowcocktails legen die Angreifer Feuer. Obwohl die Polizei über eines der damals noch seltenen Mobiltelefone davon erfährt, wird die Feuerwehr erst mit einer Viertelstunde Verspätung alarmiert. Und als die Löschfahrzeuge in Lichtenhagen anrücken, stellen sich Schaulustige den Helfern in den Weg.

Flucht auf das Dach

Erst mit nun doch mobilisierter massiver Polizeiunterstützung gelingt es der Feuerwehr, die Brände zu löschen. Mit viel Glück können sich die Vietnamesen durch einen Notausgang auf das Dach des Plattenbaus retten und über ein Nachbargebäude in Sicherheit gebracht werden.

Noch mehrere Abende setzen sich die Ausschreitungen fort. Weitere Polizisten werden verletzt und Autos in Brand gesteckt. Auf zahlreiche weitere Asylbewerberheime gibt es ähnliche Anschläge; manchmal applaudiert wie Lichtenhagen das Publikum den Gewalttätern. Deutschland schaut fassungslos auf die Gewaltausbrüche überwiegend in Ostdeutschland. Juristisch geahndet werden die Ausschreitungen kaum: Nur vier der Täter müssen maximal drei Jahren ins Gefängnis, die meisten der insgesamt 40 Verurteilten kommen mit Bewährungsstrafen davon. Bei weit über tausend direkt beteiligten Randalierern eine blamable Bilanz.

Bis zu 200 Opfer von Rechtsextremen

Linke Gruppen versuchen ihrerseits, aus den unerträglichen Gewaltausbrüchen ressentimentgeladener Jugendlicher Vorteile zu ziehen. Die unsinnige Behauptung, das vereinte Deutschland würde nach rechts tendieren, macht die Runde. Sogar die Verleumdung kommt auf, die Bundesregierung habe die Eskalation bewusst in Kauf genommen, um eine Verschärfung des Asylrechts durchzusetzen.

Als Monate später in Mölln und Solingen, also in der alten Bundesrepublik, rechtextreme Jugendliche zwei von Türken bewohnte Häuser in Brand setzen und insgesamt acht Menschen ermorden, wird sofort eine Verbindung zu dem Ausschreitungen von Rostock gezogen. Das ist jedoch vorschnell: Zwar handelt es sich ebenfalls um fremdenfeindliche Gewalt, aber eben nicht um pogromartige Ereignisse.

Vergleichbare Ausschreitungen hat es in Deutschland seit 1992 nicht mehr gegeben, auch wenn seitdem je nach Statistik zwischen 58 und fast 200 Menschen  Rechtsextremisten zum Opfer fielen.

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