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18. Juni 2012

Neonazi-Spur beim Olympia-Attentat 1972

Von Sven Felix Kellerhoff, erschienen auf Welt Online. Erstmals frei gegebene Akten werfen ein neues Licht auf die Geiselnahme israelischer Sportler vor 40 Jahren. Mindestens zwei Rechtsextremisten sollen an den Vorbereitungen beteiligt gewesen sein. Die Warnung war ernst zu nehmen. Am 21. August 1972, fünf Tage vor der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele in München, erreichte eine brisante Information das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz: Palästinensische Terroristen könnten während der Spiele einen „Zwischenfall“ inszenieren. Das sei „im Ausland“ in Erfahrung gebracht worden, hieß es weiter. Bei der Quelle handelte es sich um einen Journalisten in Beirut.

Ein deutscher Beamter, entweder beim Bayerischen oder beim Bundesamt für Verfassungsschutz, fügte hinzu, solche öffentlichkeitswirksame Aktionen passten zum Profil palästinensischer Terrorgruppen.

Allerdings erreichte diese Meldung nicht die für die Sicherheit der Spiele Verantwortlichen, das Organisationskomitee der Spiele und die Münchner Polizei. Erst am 9. Oktober 1972, fünf Wochen nach dem bis dahin schlimmsten Terroranschlag auf deutschem Boden mit elf toten Geiseln, einem toten Polizisten und fünf toten Terroristen, schickte das Landesamt einen Brief an die ermittelnde Staatsanwaltschaft München I.

Möglicherweise hätten die israelischen Sportler und Betreuer, die am frühen Morgen des 5. September 1972 gekidnappt wurden und knapp 20 Stunden später bei einem missglückten Befreiungsversuch starben, gerettet werden können.

Mindestens zwei Rechtsextremisten beteiligt

Zusätzlich zu teilweise erstmals von Welt Online ausgewerteten Akten gibt es jetzt Hinweise auf eine bislang ungeahnte Dimension dieses Anschlages.

Das Magazin Der Spiegel hat in Unterlagen des Bundesamtes für Verfassungsschutz Indizien gefunden, dass mindestens zwei deutsche Rechtsextremisten an den Vorbereitungen des Olympia-Attentats wesentlich beteiligt waren. Einer der beiden soll das gegenüber dem  Spiegel ausdrücklich bestätigt haben.

Demnach arbeiteten die beiden deutschen Rechtsextremisten namens Wolfgang Abramowski und Willi Pohl eng mit Abu Daoud zusammen, dem Organisator des Anschlags. Pohl kaufte Autos für den Palästinenser und chauffierte ihn durch Deutschland; außerdem stellte er den Kontakt zu seinem ehemaligen Zellengenossen Abramowski her, der ein geübter Passfälscher war. Nach eigenen Angaben flogen die beiden Ende Juli 1972 nach Beirut.

Zu dieser Zeit stand bereits die Logistik der Attentäter in Deutschland. Die beiden Anführer der Gruppe, Lutif Afif und Yussuf Nazzal, hatten sich bereits in der Bundesrepublik etabliert.

Afif, der in Wirklichkeit möglicherweise Mohammed Massalah oder Nahib El Ceyyusi hieß, hatte einige Jahre in West-Berlin studiert und in Paris als Ingenieur gearbeitet.

Er sprach gut Deutsch, aber mit einem auffallend französischen Akzent. Nazzal, dessen echter Name Hamid Kartout gewesen sein kann, hatte ebenfalls bereits in Deutschland gelebt – möglicherweise als Jura-Student in München, aber vielleicht auch als Hilfskoch im Olympischen Dorf.

Unauffällig über Rom nach München

Am 16. August 1972 war Afif wieder im Nahen Osten, um die anderen für sein Terrorkommando vorgesehenen Palästinenser kennenzulernen. Insgesamt sechs „Kämpfer“, alle aus Flüchtlingscamps, hatte Abu Daoud zusammen mit Abu Ijad ausgesucht.

Die sechs jungen Männer um die 20 bekamen die Anweisung, paarweise möglichst unauffällig über Rom nach München zu reisen und sich in einfachen Hotels einzuquartieren. Afif verpasste allen seinen „Kämpfern“ Decknamen; nur diese Namen sollten sie in München benutzen. Er selbst nannte sich fortan nur noch „Issa“, sein Vize Nazzal suchte sich das Pseudonym „Tony“ aus.

Alle acht Terroristen bekamen gefälschte Papiere auf wieder andere Namen, darunter mindestens drei libanesische Pässe. Ob Abramowski diese Ausweise gefälscht hatte, ist offen, denn sie sind nicht erhalten: Wenige Stunden vor dem Überfall auf das Olympische Dorf sammelte Abu Daoud die Pässe ein und verbrannte sie wahrscheinlich. Die deutsche Polizei konnte daher die Einreise der Täter auch im Nachhinein nicht aufklären.

Wahrscheinlich waren es diese Treffen des Terrorkommandos in Syrien oder dem Libanon, von denen das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz über „das Ausland“ erfuhr. Und die Quelle lieferte weitere Informationen: Am 30. August und am 2. September 1972 meldete sie, dass sich palästinensische Terroristen von Beirut aus auf den Weg nach Deutschland gemacht hätten.

Das traf zu – jedenfalls laut den späteren Aussagen der drei überlebenden Palästinensern vor der deutschen Polizei: Demnach fuhr ein Terroristenpaar am 28. August per Schiff Richtung Rom, um von hier aus nach München zu fliegen; zwei andere Attentäter nahmen am 1. September eine Maschine von Damaskus über Rom in die Olympiastadt.

Jeder hatte 500 DM bekommen

Angesichts der vielen hunderttausend meist jungen Besuchern aus allen Ländern der Welt, die Ende August und Anfang September 1972 nach München reisten, waren die Terroristen allerdings nicht auszumachen.

Seinerzeit wurden Pässe bei der Einreise nur durchgeblättert und gestempelt, aber nicht registriert.  Ohnehin lagen weder Decknamen noch Personenbeschreibungen vor. „Issa“ sei über Paris nach München zurück gekommen, sagte einer seiner Untergebenen später aus – aber ob das stimmte, ist ebenfalls unklar.

Fest steht allerdings, was in den ersten Septembertagen geschah. Alle Terroristen gingen mehrfach auf das Olympia-Gelände und besuchten Wettkämpfe, zum Beispiel Volleyball- und Fußballspiele. Jeder hatte 500 DM bekommen, um sich selbst zu versorgen, Kleidung und Sporttaschen zu kaufen.

Ob sie auch ins Olympische Dorf gelangten, ist unklar; während der Spiele war der Zutritt nur mit besonderen Ausweisen möglich, die allerdings von den dafür zuständigen Missions-Chefs der einzelnen Länder freigiebig verteilt wurden. „Issa“ und „Tony“ kannten sich auf jeden Fall gut aus in dem damals hochmodernen Wohnkomplex mit seinen charakteristischen überbauten Straßen.

Acht Sturmgewehre vom Typ Kalaschnikow

Am Abend des 4. September 1972, eines Montags, trafen sich die Attentäter und Abu Daoud, möglicherweise auch noch ein weiterer Palästinenser, in einem Mittelklassehotel am Münchner Hauptbahnhof.

Erst jetzt erfuhren die sechs „Kämpfer“, was genau ihr Ziel sein sollte: das Quartier der israelischen Olympia-Mannschaft in der Connollystraße 31. Jeder von ihnen bekam noch einmal 500 Mark, um im Falle einer getrennten Flucht genügend Bargeld zu haben.

Noch wichtiger aber war, was Abu Daoud und „Issa“ in zwei großen Taschen mitbrachte: Acht Sturmgewehre vom sowjetischen Typ Kalaschnikow mit jeweils zwei vollen Magazinen, die mit Pflaster aneinandergeklebt waren. Woher diese Waffen stammten, ließ sich nicht feststellen.

Anders war es bei den zehn Handgranaten, die sie ebenfalls bekamen. Denn dabei handelte es sich um ganz seltene Exemplare aus belgischer Produktion, die aber mit schwedischem Sprengstoff gefüllt waren. Der Hersteller hatte sie 1946 nach Saudi-Arabien geliefert.

Gegen 4.20 Uhr morgens am 5. September 1972 überkletterten die als Sportler getarnten Terroristen den Zaun zum Olympischen Dorf. Sie zogen sich um, machten ihre Waffen scharf und stürmten das Quartier der israelischen Mannschaft gegen 4.45 Uhr. In den folgenden knapp 20 Stunden der Geiselnahme hielt die Welt den Atem an.

Am eigentlichen Anschlag nicht beteiligt

Auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck schließlich scheiterte in einer wilden Schießerei der verzweifelte Versuch der Münchner Polizei, die Sportler zu befreien. Seinerzeit verfügte Deutschland nicht über ausgebildete Spezialkräfte; auch beim BND gab es, entgegen immer wieder zu hörenden Behauptungen, keinerlei Antiterror-Einheiten.

Durch den desaströsen Einsatz starben neben allen Israelis auch ein deutscher Beamter, „Issa“ und „Tony“ sowie drei der „Kämpfer“. Die anderen drei Terroristen wurden mehr oder weniger verletzt festgenommen.

Am eigentlichen Anschlag waren die deutschen Neonazis nicht beteiligt; Willi Pohl soll nach Angaben des „Spiegel“ am 5. September 1972 in Wien gewesen sein. Mitte Oktober reisten die beiden zurück nach Europa, um wieder logistische Unterstützung für geplante Racheakte gegen Deutschland zu leisten. Dazu kam es nicht, denn Abramowski und Pohl wurden am 27. Oktober in München festgenommen.

Bei ihnen fand die Polizei sechs Handgranaten aus belgischer Produktion mit schwedischem Sprengstoff, die 1946 an Saudi-Arabien geliefert worden waren – der sichere Beweis, dass sie tatsächlich an den Vorbereitungen des Olympia-Attentat beteiligt gewesen waren.

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